Writer, Teacher, Musician

Month: March 2010

Mal etwas Schwung in die Sache bringen…

Zu lang gibt’s diese Seite schon, ohne dass nennenswerte Neuerungen erschienen wären. Freunde verweigern mir bereits ihre Obhut, bis ich mal wieder etwas Neues gepostet habe. Im Kreis der Familie ist die erste Frage: “Und, der Blog…?” Etwas Schwung also – auch, damit die mal Ruhe geben. Außerdem ist mein Kühlschrank leer und der einzige Freund in der Umgebung… na ja, den hatte ich ja schon. Schwung kommt aber nicht irgendwoher. Schwung ist Ergebnis der Aktivität eines Bewegers. Dieser Eintrag ist damit so etwas wie ein Ausholen, um drei Neuigkeiten geneigten Lesern und Hörern näher zu bringen.

Da wären zunächst zwei Artikel journalistischer Art. Der erste handelt von drei jungen Damen, die in Berlin eines der besten Magazine des Landes herausbringen, in Eigenregie wohlgemerkt. Die drei sind außerdem ungefähr so alt wie ich und verdienen allein schon deswegen meine Unterstützung – for whatever that’s worth… (“Die konsequenteste Form des Lokaljournalismus“) Im zweiten Artikel geht es um eine Familie namens Klein, deren Abendbrot, einen Zwergplaneten namens Pluto, Sophisten und Hacker, Platon und Aristoteles… Und wer immer noch keinen Bock auf den Artikel hat, dem sei gesagt, dass darin erklärt wird, warum es nichts Neues unter der Sonne Kaliforniens gibt. (“Nichts Neues unter der Sonne?“) Übrigens: Wie es so ist mit Manuskripten, hab ich diese beiden Texte irgendwo, in der Bahn wahrscheinlich, liegen gelassen, nur um sie ein paar Tage später in einem journalistischen Branchenblatt abgedruckt zu sehen.

Die dritte Neuigkeit ist der Van Driessen Song „Inside a dream“ – eine Melodie, die mir schon seit drei Jahren im Kopf herumgeisterte, immer wieder mal gespielt oder gesungen, aber zu der ich erst jetzt den richtigen Text gefunden habe. Aufgenommen wurde das Lied Anfang März 2010 im „Sanatorium“ unter der Regie von Ryemore. Zu hören jetzt hier, im Player…

Nichts Neues unter der Sonne?

Mutter Klein ist wütend. Da hat sie einmal die ganze Familie beim Abendbrot beisammen, und was tun ihre Männer? Sie streiten. Der Sohnemann hat gerade in der Schule gelernt, dass es acht Planeten in unserem Sonnensystem gibt. Vater Klein aber will sich genau daran erinnern, dass Pluto der neunte Planet des Sonnensystems ist. Quatsch, sagt der Sohn. Die Mutter greift zu ihrem Laptop. Kurz bei Wikipedia gecheckt, ergibt sich: Pluto ist kein Planet. Zur Schulzeit des Vaters jedoch, so lernt die Familie, galt Pluto noch als neunter Planet des Sonnensystems. Eine Versammlung von Astronomen hatte vor ein paar Jahren einfach die Definition eines Planeten geändert. Nach der neuen Definition brauchte Pluto zu lange für seine Sonnenumkreisung. Na sieh mal an, sagt Vater Klein verblüfft. Du hast ja auch Recht, erwidert der Sohn versöhnlich. Pluto sei auch ein Planet, nur halt ein Zwergplanet. Der Familienfrieden ist gerettet, Mutter Klein zufrieden. Danke Internet, denkt sie. Ihr alter Brockhaus hätte die Antwort nicht gewusst. Was aber, wenn mehr an einer Frage hängt als der Haussegen bei Familie Klein?

Das Internet ist nicht nur Kontaktbörse und Schnittstelle für Medien aller Art, es ist vor allem das größte Lexikon der Welt, eine Art objektives Gedächtnis. Vor allem die Online-Enzyklopädie Wikipedia zieht wissbegierige Internet-Nutzer wie Familie Klein an. Seit gerade einmal einem Jahrzehnt gibt es Wikipedia und es existieren bereits mehr als 21 Millionen Artikel in rund 260 Sprachen. Dieses explosionsartige Wachstum wird nur noch übertroffen von der Popularität der Seite: Wikipedia rangiert auf Platz sieben der meistbesuchten Webseiten weltweit. Wohlgemerkt, ein Lexikon, kein Videoportal. Manch einem Enzyklopädisten der französischen Aufklärung hätte im Bewusstsein dieser Entwicklungen wohl ein seliges Lächeln auf den Lippen gelegen. Tatsächlich verbindet Wikipedia und die Gelehrtenrepublik des 18. Jahrhunderts ein verwandter Geist. Der Nährboden, auf dem das Projekt wächst, ist ein grundsätzlicher Idealismus, der Glaube an die menschliche Fähigkeit zur Objektivität.

Gegründet am Ende des letzten Jahrtausends, ist Wikipedia das Kind von Jimmy Wales, einem Fantasy-Rollenspieler mit BWL-Abschluss. Wales ist Anhänger der in Europa eher unbeachteten amerikanischen Schriftstellerin Ayn Rand, deren Objektivismus auf der aristotelischen Definition des Menschen als vernünftigem Lebewesen basiert. In der Wikipedia-Welt findet dieser Grundsatz seine Formulierung in Wales Grundsatz „Sag mir nicht, wie ich zu denken habe, erzähl mir nicht nur eine Seite der Geschichte; gib mir Fakten und ich werde selber darüber entscheiden.“ Gemäß dieser Politik der neutralen Perspektive werden Autoren der Lexikon-Artikel angewiesen, akzeptierte Sachverhalte ohne Vorurteile darzustellen und im Falle von Streitfragen beiden Streitparteien gleichviel Platz einzuräumen. Der Grund für Wikipedias rasanten Wachstum ist jedoch, dass die Macher der Seite zwar solche Regeln festlegen – nicht aber, wer für sie schreiben darf. Das Online-Lexikon bietet damit ein Gegenmodell zum klassischen Experten. Bei Wikipedia ist Expertise nicht mehr in einer Person verkörpert, sondern in der Gesamtzahl der Nutzer als Wissens-Kollektiv. Der Gedanke passt bei einem globalen Netzwerk wie dem Internet. Wikipedia nutzt klug die enorme Vernetzung des World Wide Web, um aufzubauen, was Wales als „Summe des menschlichen Wissens“ bezeichnet.

Im Rückblick scheint diese Entwicklung angesichts der Beteiligungsmöglichkeiten des Internets fast unausweichlich. Um die Jahrtausendwende jedoch, als Unternehmen wie Google und Wikipedia noch in den Kinderschuhen steckten, war nicht abzusehen, wie sich das Internet entwickeln würde. Anfangs noch überschaubar, wuchs das Netz schon bald rasant an. Zwei konkurrierende Modelle, wie man da für Orientierung sorgen könnte, standen sich damals gegenüber. Der Branchenprimus Yahoo setzte darauf, ein Heer an Experten dafür zu bezahlen, das Internet zu katalogisieren. Bei Google und Wikipedia dagegen glaubte man an die Eigendynamik großer Gruppen von Individuen, die, geleitet von ihrem gesunden Eigeninteresse, gemeinsam mehr zustande bringen könnten als allein. Dies war Ayn Rands Philosophie des Egoismus, übertragen auf die digitale Welt. Als Wales dann von den Wikis, einer Innovation des Hackers Ward Cunningham, Wind bekam, waren die Grundsteine für Wikipedia gelegt. Cunninghams Wiki-Prinzip beruht auf der demokratischen Teilhabe aller am Aufbau einer Seite. Nutzer können eine neue Seite erstellen und verändern – gleichzeitig und parallel. Aus dem Chaos vieler kleiner Änderungen, so der Gedanke, soll dann Ordnung entstehen, Wissen, Wahrheit. Für ein Lexikon bedeutet das: Die Überprüfung einer Information durch ausgewiesene Sachverständige wird ersetzt durch eine größere Anzahl Interessierter. Das ist der Zaubertrick, auf dem scheinbar das ganze World Wide Web basiert. Auch hinter Googles Algorithmen steckt eine ähnliche Idee: Suchergebnisse werden dort nach dem Prinzip ausgegeben, dass diejenige Seite als relevantestes Suchergebnis erscheint, welche die meisten Verlinkungen von ihrerseits relevanten Seiten vorweisen kann. Bei Google soll also ebenfalls Quantität Qualität garantieren. Etwas ist relevant, so die Denkweise, weil es am meisten verlinkt wurde. Nicht: Etwas wurde am meisten verlinkt, weil es relevant ist. Ungeachtet der Frage, ob hier Relevanz mit Beliebtheit verwechselt wird, lässt sich heute, ein Jahrzehnt nach diesen Weichenstellungen, konstatieren: Der Ansatz von Wikipedia und Google gewinnt den Tag; Yahoo ist quasi tot.

In einem Wikipedia-Artikel findet sich also eine Darstellung des Diskussionstandes zu einem Thema. Der anonyme Autor sagt implizit: Das wissen wir über eine Sache! Ein kritischer Geist mag da, nach erster Zustimmung, vielleicht nachfragen: Wer stellt denn die Informationen zusammen, und mit welchen Intentionen? Tatsächlich gibt es schon einige handfeste Hinweise auf Manipulationen in der relativ kurzen Geschichte der Enzyklopädie. Missbrauch nimmt dabei selten die Form tatsächlicher Falschinformation an. Oft zeigt er sich eher in dem, was in Artikeln über Unternehmen und deren Produkte nicht zu finden ist. Prominent geworden ist der Fall des Wahlmaschinenherstellers Diebold, den das US-Magazin Wired aufdeckte. Ein anonymer Autor hatte in dem Wikipedia-Artikel über Diebold ganze Absätze über Zweifel an der Verlässlichkeit der Maschinen gelöscht. Dummerweise konnte die Aktion auf einen Rechner zurückverfolgt werden, der in der Diebold-Hauptzentrale in Ohio stand.

Nichtsdestotrotz beschreibt Wales seine Erfahrung mit dem Vertrauen, das er in die Wiki-Gemeinschaft setzt, als gut. Die Qualität einer Mehrzahl der Artikel gibt ihm Recht. Wie das Wissenschaftsmagazin Nature herausfand, ist die Online-Enzyklopädie in Sachen Genauigkeit durchaus vergleichbar mit einem allseits anerkannten Lexikon wie der Encyclopedia Britannica. Das liegt aber auch daran, dass sich gerade die Wissenschaftsseiten bei Wikipedia nach den Standards der Buchbranche richten. Artikel über wissenschaftliche Sachfragen werden von anerkannten Spezialisten verfasst oder schlicht aus Fachbüchern abgeschrieben. Nicht die egalitären Prinzipien der Wiki-Welt sind es also, die in den meisten Fällen die Qualität eines Eintrags garantieren, sondern die Kriterien der traditionellen Wissenskultur. Bei genauem Hinsehen entpuppt sich das neue Modell als weniger revolutionär als es die Selbstbeschreibungen der Wiki-Pioniere vermuten lassen. Es gibt nichts Neues unter der Sonne, auch unter der kalifornischen nicht.

Bei aller Begeisterung für die Möglichkeit, in einem offenen Prozess vorhandene Informationen zu einem Thema zu sammeln, um an so etwas wie Wahrheit heranzukommen – die Frage, was Sachverstand ausmache, bleibt zentral. Schon Platon wusste: Die Vielen können sich irren. Der griechische Philosoph sah deutlich die Gefahren, die davon ausgingen, Wahrheit als Konsens der möglichst größten Zahl zu verstehen. Die Sophisten seiner Zeit standen auf den Marktplätzen und verstanden es, mit rhetorischen Tricks die Massen ihren Machtinteressen gemäß zu steuern. Auf dem virtuellen Marktplatz unserer Zeit gelten die gleichen Regeln. Es ist kein Zufall, dass der Wiki-Gedanke einem unter Hackern als „Basar-Modell“ bezeichneten Programmierprinzip entstammt.

Wenn ein Wikipedia-Eintrag die Familienharmonie retten kann, ist das natürlich wunderbar. Ihren neuen Staubsauger aber wird wohl auch Frau Klein eher auf Kaufempfehlung der Stiftung Warentest kaufen, oder nach persönlichem Antesten. Ebenso liegt für auch andere Nutzer die Aufgabe darin, die nötige Kompetenz im Umgang mit open source-Lexika zu entwickeln. Gerade Journalisten sollten die Online-Enzyklopädie nur im Bewusstsein des Entstehungsprozesses ihrer Artikel nutzen. Wikipedia, so die nicht allzu neue Erkenntnis, kann gewissenhafte Recherche nicht ersetzen.

(Eine Version dieses Artikels ist erschienen in textintern 12/2010. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.)

Die konsequenteste Form des Lokaljournalismus

Lokaljournalismus ist eigentlich paradox. Einerseits öffnen sich Menschen einem Berichterstatter erst, wenn sie warm mit diesem geworden sind. Im Idealfall also, wenn er einer von ihnen ist. Das Authentische eines Ortes kann demnach nur einfangen, wer auch dort zu Hause ist, in Teilnehmerperspektive. Andererseits droht der klassische Lokalreporter nach Jahren der Berichterstattung zum Inventar zu werden, vereinnahmt von der allzu bekannten Umgebung. Da beginnt der Scharfblick des Journalisten leicht zu verschwimmen. Der Standpunkt des konsequenten Lokaljournalismus befindet sich also irgendwo zwischen der Neugier des Fremden, der noch klar sieht, und der Vertrautheit des Einheimischen, der an Plätze und Menschen gerät, die demjenigen, der nur als Fremdobjekt wahrgenommen wird, verschlossen bleiben müssen.

Eine interessante Antwort auf diese Herausforderung haben Esra Rotthoff, Alexandra Bald und Ana Lessing gefunden, Absolventinnen der Berliner Universität der Künste und die Herausgeberinnen des Magazins Berlin Haushoch. Beim Betreten ihrer Redaktion in Berlin-Mitte fühlt man sich wie in einer gemütlichen Studenten-WG. Und der Eindruck einer Wohngemeinschaft trügt nicht, auch wenn hier unter Hochdruck gearbeitet wird: Die drei jungen Frauen widmen sich jener Art von Dauerrecherche, bei der Leben und Job verschmelzen. Ein Jahr lang nehmen sie sich Zeit, um einen Berliner Kiez zu portraitieren, direkt aus dem Stadtteil heraus. Nach zwölf Monaten dann wandern das weiße Sofa, die selbstgezogenen Tomatenpflanzen und der große Schreibtisch der drei in den nächsten der 23 Bezirke der Hauptstadt – ganz nach dem Prinzip „Je näher, desto besser.“ „Lupenjournalismus“ nennt die Süddeutsche Zeitung solch handwerkliche Genauigkeit. Und wie mit der Lupe haben sich die drei in ihren bisherigen Heften an Berliner Klischees vorbei gearbeitet, um jene Authentizität aufzuspüren, die eben nicht einfach auf der Straße liegt, sondern in versteckten Gartenlauben im Wedding und auf dreckigen Tanzflächen in Charlottenburg.

In ihrem ersten Heft über Berlin-Marzahn stand noch die Designer-Vergangenheit der Herausgeberinnen im Vordergrund, mit außergewöhnlichen Fotostrecken, die den Stadtteil vornehmlich visuell darstellten. In einer mit „Plattensammlung“ betitelten Serie wurden so typische Plattenbauten zu modernistischen Blöcken, deren Bewohner die Kameralinse in „Gesichter eines Hauses“ einfing: immer nah dran, aber nie distanzlos. In der Wedding-Ausgabe lichteten sich die Herausgeberinnen in einer türkischen Metzgerei ab – in schicker Abendgarderobe und mit Ironie-Garantie. Inzwischen ist nicht nur der Umfang der Hefte fast um das Doppelte gewachsen, auch der Anteil an Texten nahm mit jeder Ausgabe zu. Renommierte Journalisten schreiben für Berlin Haushoch ohne Honorar – ein weiteres Zeichen für die außergewöhnliche Qualität und den innovativen Charakter dieses neuen Branchen-Darlings.

Aber auch die drei Herausgeberinnen verdienen kein Geld mit ihrem Magazin: Jeder Cent aus dem Verkauf wird in das nächste Heft investiert. Da Rotthoff, Bald und Lessing auch auf Anzeigen verzichten, erinnert ihre Unternehmenspraxis an den aus dem Eiskunstlauf geläufigen Zusammenhang zwischen Pflicht und Kür: Erst die Pflicht ihres gut laufenden Design-Büros „Haushoch“, mit dessen Einnahmen Miete und Lebenshaltungskosten während der Produktionsphase gedeckt werden, ermöglicht den drei jungen Frauen die Kür des anspruchsvollen Print-Objekts. In Sachen Vertrieb setzen die Macherinnen ebenfalls auf Unabhängigkeit. Nach dem Motto „Selbst ist die Frau“ wird sogar das Eintüten der Hochglanzmagazine zum Versand eigenhändig erledigt. Dass sich die drei 27-Jährigen in kluger Ressourcenverwertung auskennen, bewiesen sie auch, als sie das Heft über Charlottenburg als Abschlussarbeit an der Kunsthochschule einreichten und so nebenbei ihr Studium mit Auszeichnung abschlossen. Ob Produktion und Vertrieb ihres Magazins aber weiterhin nach der Devise „Do it yourself“ funktionieren werden, ist bei der großen Resonanz auf das Produkt fraglich: Wurden von dem Heft über Marzahn 1.500 Stück verkauft, betrug die Auflage der Charlottenburg-Ausgabe schon 10.000. Und dass das Heft über Berlin-Mitte diese Zahl noch übertreffen wird, bezweifelt keine der Macherinnen von Berlin Haushoch.

(Eine Version dieses Artikels ist erschienen in textintern 10/2010. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.)

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