Writer, Teacher, Musician

Month: September 2010

Facebook und der Gletscher

Man fahre an einem beliebigen Spätsommertag über den Icefields Parkway, einer zweihundert Kilometer langen Autostraße in den kanadischen Rocky Mountains, und halte an einem der vielen Parkplätze entlang des Highway. Die Luft schmeckt frisch hier, auf zweitausend Metern. Im Schnee der Gipfel spiegelt sich die Nachmittagssonne und zwingt auch denjenigen, der noch nicht von der Weite der Täler und der Höhe der Bergriesen wie geblendet ist, die Augen zu schließen. Für einen Moment ist nur der Wind zu hören, leise, in den Wipfeln der Wälder.

Bis dann, noch ehe man die Augen wieder öffnet, etwas Anderes heran fliegt – ein Rumoren von Klimaanlagen, ein schweres Rollen auf Geröll. Man kann sie erahnen, bevor man sie sieht: Busse voller Touristen, vornehmlich Rentner, eifrige Pilger an entlegene Plätze. Es ist eine Szene, die sich millionenfach wiederholt; überall dort, wo Touristen an historische Stätten und Naturschauplätze gefahren werden. Als Weltwunder werden sie ihnen angepriesen, als not-to-be-missed. Auch auf den Athabasca Gletscher – unweit des Parkplatzes, an dem diese Begegnung stattfindet – finden solche Vokabeln Anwendung. Und so folgt man dem Strom der Touristen, einen asphaltierten Weg entlang, hinauf zur Zunge des Gletschers.

Doch angekommen, findet man statt Erhabenheit nur Ernüchterung. Da liegt die Eiswüste, grell und groß, genau wie auf den Postern im Informationszentrum. Aber etwas fehlt – etwas, das man hier oben zu finden geglaubt hat. Die Leere steht auch den versammelten Ehepaaren ins Gesicht geschrieben. Eine untersetzte Frau in Flip-Flops watschelt durch den Schnee auf einen blanken Felsen zu und fasst es aufrichtig in Worte, dieses vage Gefühl von deja-vu: „Fast so schön wie in Disneyland, der Stein!“ Sagt’s und steigt wieder in den klimatisierten Bus, in dem ihre Flip-Flops nun nicht mehr deplatziert, sondern wohl bedacht wirken.

Was ist das für eine Welt, in der das primäre Ereignis nur auf der Folie seiner Rekonstruktion wahrgenommen wird? In der wir nie bei der Sache selbst sind, sondern stets bei den Faksimiles, den Simulacra? In der die Wirklichkeit enttäuscht, weil sie nicht mit geweckten Erwartungen konform geht? Es ist eine Welt, in der alles Produkt ist – ein Produkt, das sich nach unseren Bedürfnissen zu richten hat, und nicht umgekehrt. Wir sind enttäuscht, frustriert, wenn wir von einem Produkt nicht das bekommen, was wir erwarten. Also gehen wir weiter, in unserem Kaufverhalten sowieso – ist die Möglichkeit der alternativen Wahl nicht die conditio sine qua non des Kapitalismus? – aber auch in Freundschaften, Beziehungen. Wir konsumieren unsere soziale Welt wie einen Sonntagabendfilm. Langweilig? – zap! Langweilig? – unfriend! Das ist die Facebook-Welt – und sie leidet unter einem massiven Mangel an dem, was man in der Entwicklungspsychologie „Frustrationstoleranz“ nennt.

Ein schrecklich moralistischer Ton schleicht sich in diese Betrachtungen. Große Umwälzungen finden nun einmal statt, möchte man sagen, und Facebook ist nicht mehr als ein Symptom, ein Ausdruck veränderter Sozialstrukturen. Was ist daran auch schon so falsch? Soll man seine Zeit in diesem einzigen Leben mit Dingen und Menschen verbringen, die man im Innersten ablehnt? Der Fortschritt macht es möglich, sich nicht mit dem status quo abfinden zu müssen. Jeder kennt das – dieses Gefühl, verdammt dankbar für die Errungenschaften der Moderne zu sein, für ihre Rechte und Chancen, ihre Technologie, ihren Individualismus. Warum auch sollte die Welt nicht optimierbar sein? Jahrtausende alte Fragen scheinen auf, ein Zwist zwischen Intervention und Meditation, zwischen Christentum und Buddhismus – Fragen, die alles andere als beantwortet sind.

Eine logische Fortentwicklung unseres Drangs nach Verbesserung des Gegebenen ist die Verschmelzung von CGI-Technologien mit dem menschlichen Wahrnehmungsapparat. Nichts anderes geschieht in der AR-Bewegung. AR steht für „Augmented Reality,“ was ungefähr so viel heißt wie „erweiterte Wirklichkeit.“ Da wird an Brillen und Kontaktlinsen gearbeitet, die sämtliche verfügbaren Informationen über Orte sammeln und visuell wahrnehmbar machen. Schon heute kommen Benutzer der einschlägigen Mobiltelefone in den Genuss, ihre Welt derart erweitern zu können. Der Mensch, der durch die Straßen einer fremden Stadt geht, bei einem Blick eine Straße hinunter in seinem Gesichtsfeld Restaurants, Shops und sogar die Orte erst kürzlich geschehener Verbrechen angezeigt bekommt, ist daher keine allzu ferne Zukunftsvision. Nur wessen beraubt er sich dabei, dieser Hyperinformierte in seiner optimierten Realität?

Eine Ahnung vom Preis, den er zahlt, lässt sich auf einem Berghang in den kanadischen Rockies finden, auf der anderen Seite des Gletschertales, über einen dicht gewachsenen Tannenwald hinweg. Wenn man plötzlich, unerwartet, nach einer langen Wanderung über dicke Wurzelstämme und sprudelnde Bergbäche schwer atmend ein Plateau erreicht, in der kalten Höhenluft auf dreitausend Metern, und der Blick hinüber fliegt, über das Tal und auf den Gletscher, und dieser auf einmal majestätisch da liegt – ja, geradezu ein anderer geworden ist – und wenn einen ein Gefühl ergreift, das dem Schaudern der ursprünglichen Entdecker wohl näher ist als der Enttäuschung des modernen Touristen.

Die Kommunikationsmöglichkeiten der Facebook-Gesellschaft machen unsere Welt einfacher, leichter navigierbar. Sie eröffnen Chancen des Erlebens – vergleichbar der Bereicherung, die eine gewachsene Mobilität früheren Generationen beschert hat. Das ist, zumindest in meinem Leben, ein Fakt. Andererseits ist ebenso ein Fakt, dass etwas verloren geht, wenn man den Bus nimmt. Derjenige, dem der Aufstieg zum Gletscher erleichtert wird, gelangt paradoxerweise an einen anderen Ort als derjenige, der den langen, steinigen Weg nimmt und vielleicht durch Zufall zum Eis gelangt. Es ist ein anderer Ort, auch wenn es derselbe ist. Denn der Weg modifiziert das Ziel – in den Höhen der Rocky Mountains wie im virtuellen Raum des Internets.

Les Demoiselles d’Amérique

Atme ein, nimm das alles auf, wie Löschpapier.

Der Tisch vor dir, fleckig mit fettigen Fingerabdrücken. In diesem kleinen Diner in Roxbury, nahe dem Apartment deines Bostoner Freundes. Der Jetlag, der dir einen Arm über die Schultern legt, dich zur Tischplatte zieht, mit seinen Händen über deine Lider streicht – eine Verführung, der es zu widerstehen gilt. Das Schild auf der öligen Fensterfront, hinter dem jetzt, um acht Uhr morgens, Frühaufsteher vorbeiziehen, und das, wenn du es dir gespiegelt denkst, Al’s als besten Diner der Stadt empfiehlt. Helen, die Kellnerin in ihren Vierzigern, mit strohiger Haarspray-Frisur und Augenringen, die dich zu deinem Tisch führt, durch das Interieur eines generischen Schnellrestaurants. Die roten Plastikbänke. Der saure Geruch von verschüttetem Kaffee. Der stechende Geruch von Putzmitteln. Die Musik, Country im Popgewand, ein unterschwelliger Klang. Der wässrige Kaffee vor dir, in dem sich träge Sahnewirbel drehen. Das mehrfach unterstrichene Schild über deinem Platz, das die Mindestanzahl der Personen, die den Tisch belegen dürfen, auf zwei festsetzt. Die schwarzen Cops, ein Mann, eine Frau, die eintreten und zum Glockenklang der zufallenden Tür ihre Bestellung in die Küche rufen. Al’s Scramble. Pancakes, Rührei, Toast, Kaffee. Sieben Dollar. Danke Al.

Du bist die Nacht hindurch wach gewesen, nur ab und an erlöst durch Minutenschlaf. Dann der Blick auf die Trabantenstadt, Downtown Boston im Morgendunst, von einem Felshügel über Backsteinblöcken und einem Stop and Shop. Du bist über leere Parkplätze gewandelt, um dort oben anzukommen, durch Überreste von kaputten Fernsehern und anderen Elektromüll. Du hast Turnschuhpaare auf Stromkabeln über schmalen Straßen baumeln gesehen. Gärten wie Junkyards, rostige Chevrolets, NRA-Aufkleber auf Hippiehäusern. Jetzt sitz einfach hier und schreib und lies das Memorierte. Genieß diese Selbst-Erschaffung, in der ersten Person, deinem flüchtigen Zuhause. Denn das alles sind Mythologien. Erzählungen. Wie dunkle Schemen im Sonnenlicht. Blinzele hinein und nimm die Schemen für das Wahre, das Einzige. Und dann schließ die Augen und wechsele den Winkel und öffne die Augen wieder und nimm auch diesen nächsten Punkt als fest und unverrückbar. Und dann gib auch diese Sichtweise wieder auf.

Es ist gar nicht schwer. Erinnere dich an die junge Lehrerin, gestern im Common, dieser weiten Grünfläche vor dem State House mit seiner orientalischen Goldkuppel. Sieh die Lehrerin vor der Statue im Park und hör zu, wie sie ihrer Gruppe schlaffgesichtiger Kinder von tapferen amerikanischen Soldaten erzählt, die nur zur Selbstverteidigung kämpfen: „Dieses Denkmal ist unseren Männern und Frauen an der Front gewidmet, und ich möchte, dass ihr daran denkt, wenn ihr hier vorbeigeht.“ Sieh die zwei Marines, uniformiert, die von vorbeifahrenden Autos mit einem aufmunternden Hupen und von einer Gruppe Jugendlicher mit bewundernden Blicken bedacht werden. Erinnere dich an die aufgebrachte Frau in signalroter Montur, die in der U-Bahn um ein paar Dollar bittet, ihr Blick halb Verzweiflung, halb Drohung: „Meine Brüder sind im Irak und in Afghanistan. Meine Mutter ist blind und dement. Danke, Sir, danke.“ Sieh die blankgeputzten Monumente, die an lange zurückliegende und derzeit stattfindende Kriege erinnern sollen, auch hier, im liberalen Neu England. Sieh ein Land im Kriegszustand.

Und dann setz dich auf eine Parkbank, ins warme Nachmittagslicht, und sieh ein Land im Frieden. Fühl den Wind auf deinem Gesicht, kühler als der Wüstensturm, der fernen GIs die Seele aufraut. Lies ein Gedicht. Riech das sonnenverbrannte Gras, eine Ahnung von Herbst. Such im Gesicht einer Frau nach einem Lächeln, und spüre Wellen dich durchlaufen, wenn du es gefunden hast. Sieh für einen ewigen Moment das Leben an als nichts als diesen Park, diesen Eindruckscluster, vor und nach dem gar nichts existiert, und nimm an, dass die Wahrheit manchmal davon abhängt, in der Sonne zu sitzen, gedankenentleert, bis die Bäume zu Schemen werden.

Der Common ist weder nur Krieg noch nur Frieden. Er ist wie das Leben, wie dieses Land. Er ist beides. Du kannst beides darin finden; es ist gar nicht schwer.

Nimm alles auf. Übe dich im Blinzeln. Genieß die Schemen. Richte deinen Kamerablick von abseits auf die Dinge. Sieh Al, den jamaikanischen Diner-Besitzer vor dir, wie er einen Berg Pastrami-Fleisch auf eine heiße Kochplatte schaufelt und sich einen Telefonhörer unter sein breites Kinn klemmt. Seine Worte sind an eine Amara gerichtet, am anderen Ende der Leitung, aber seine Blicke gelten der Polizistin vor ihm: „Oh Amara, deine Stimme… Du kannst jederzeit bei mir vorbeikommen. Für dich ist mein Fleisch umsonst, Baby.“ Die Polizistin kichert, beugt sich über die Theke, lässt ihre Blicke schamlos über Als grobe Hände laufen. Der große Jamaikaner lacht, zwinkert: „Oh Baby, Amara, ich liebe es, wenn du dich aufregst. Deine Stimme ist so… sexy.“ Ein weißer Junge mit Dreadlocks, knapp volljährig, kommt hinein, geht in die Küche, füllt dampfenden Kaffee in einen Pappbecher, nimmt einen eingewickelten Sandwich von der Theke, wirft Al eine Rolle mit Dollar-Scheinen entgegen, nickt ihm zu und verlässt den Diner wieder – das Ganze wortlos, mit dem Schwung der Routine. Sieh die Polizistin, wie auch sie durch die Eingangstür geht, einen Blick über die Schulter wirft, „Bye Al-Baby“ flötet. Wie ihr Schlagstock im Rhythmus ihrer Hüften wippt.

Und dann schließ die Augen und dreh dich nach rechts. Wenn du sie wieder öffnest, steht da eine Gruppe vor einem Stand mit Chips und Cola, vier Jungs im Grundschulalter – so eng beieinander, dass nicht zu erkennen ist, was sie mit ihren Händen anstellen, dort, zwischen den Tüten und Flaschen. Sieh, wie Als Lächeln gefriert, jetzt, wo sein effizienter Parallelflirt mit Amara und der Polizistin beendet ist. Wie er sein Fleisch schneller wendet, ohne den Blick von den Schuljungs zu nehmen, seine Halsmuskeln gespannt. Schließ erneut die Augen und beobachte beim Öffnen, wie die Jungs verstohlen zur Tür sehen. Wie diese aufgeht und eine schwarze Frau in Jeans und Trainingsjacke hereinkommt. „Jay, komm jetzt,“ ruft sie einem der Kinder zu, einem Jungen mit kurzgeschorenen Haaren und einem weiten T-Shirt, auf dem ausgerechnet der Rapper Jay-Z durch halbgeschlossene Augenlider lugt. „Yo, chill, Mom,“ erwidert Jay und wiegt sich in Richtung Eingangstür, ein Bein lässig nachgezogen, mit den Händen die schweren Baggie-Pants etwas vom Boden abgehoben. Die anderen Drei folgen in verschieden ausgeprägten Varianten des gleichen Gangs. Das Gesicht des Diner-Besitzers klart auf. „Morgen, Marian,“ sagt er und lächelt Jays Mutter an, die Schaufelbewegung, mit der er sein Fleisch umschichtet, wieder munterer, musikalischer. „Wieder zu spät zur Schule?“ Marian spielt Verzweiflung. „Oh Al,“ sagt sie, während Jay und seine Freunde an ihr vorbei durch die Tür gehen. „Mal für einen Tag mit dir tauschen. Ich manage deinen Laden, du kümmerst dich um die Kinder?“ Al lacht, seine Schultern beben. „Jederzeit, Marian, jederzeit.“

Trink deinen Kaffee aus und gib Al ein großzügiges Trinkgeld, selbst für amerikanische Verhältnisse. Dann geh hinaus in den Morgen und fahr mit der Orange Line bis Downtown Crossing und wirf den arbeitslosen Berklee-Absolventen mit ihren halbakustischen Gitarren im windigen U-Bahn-Schacht ein paar Dollarnoten zu, für gutes Karma. Wechsele auf die Red Line zusammen mit den Touristen und dem Flughafenpersonal und fahr bis zur South Station und nimm dort deinen Zug gen Westen, in das Herz Amerikas hinein. Schau, ob du es finden kannst, das Wesen dieses unendlich großen, paradoxen Landes, dort draußen, hinter den Appalachen, zwischen den Great Plains und den Rocky Mountains – denn etwas verstehen bedeutet, sein Wesen zu erfassen. Steig in den Zug und lass dich davontragen, auf den Schienen Amerikas. Vergiss nicht, ab und an zu blinzeln und deine Perspektive zu wechseln. Denk dir deine Eindrücke als fest nur für den Moment. Nur im ständigen Sprung von einem Blickpunkt zum nächsten, im Wechsel von einer Mythologie zur anderen, kannst du das Wesen der USA denken – in der Zusammenschau all dieser verschiedenen Winkel zu einem kubistischen Gemälde, einem amerikanischen Picasso deines Geistes.

(Dieser Text ist ein Auszug aus der Reiseerzählung Hello Stranger.)

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