Writer, Teacher, Musician

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Auf der Suche nach dem Wesen Amerikas

Wer derzeit den Fernseher einschaltet, hört eigentlich nur Wirtschaftsnachrichten. Krise der Euro-Zone, Diskussion um Erhöhung der amerikanischen Schuldendecke. Und auch wenn die Straßen Athens oder Polizeiautos in Downtown Vancouver brennen, sind die wahren Brandstifter weder griechische Gewerkschafter noch Hockeyfans im Vollrausch. Der Frust Einzelner passt in eine Zeit gefühlter Rat- und Hilflosigkeit angesichts scheinbar fehlender Alternativen zum Monopoly der Bosse.

Begonnen hat das 2008, dem Anfang der so genannten Subprime Mortgage-Krise. Als der Traum einer Gesellschaft, in der die Eckpfeiler des Lebens – Ausbildung, Haus, Familie – auf Pump finanziert werden sollten, sich zum Albtraum auswuchs. Im Grunde wachen wir noch immer daraus auf, langsam jedoch. Unsere Zeit wirkt manchmal wie einer dieser Albträume, die nicht enden wollen – jedes Aufwachen nur ein weiteres, höheres Stockwerk im großen Haus des kollektiven Materialismus.

Als damals, im hello_stranger-150x126September des Jahres 2008, die Nachricht vom Kollaps der Investmentbank Lehman Brothers über die Fernsehschirme zu flimmern begann und der Goliath USA anfing zu wanken, war ich in Chicago – unterwegs auf den Schienen Amerikas, in einem 3500-Meilen Trip von der Ost- bis zur Westküste. „Von allen Orten gelöst, um im Denken anzukommen,“ sollte ich später über meine Motivation für diese Bahnreise schreiben. Aber das war schon Monate nach den langen Tagen auf Amtraks Zügen und bereits Teil der unausweichlichen Narrativisierung des eigenen Lebens. Im Grunde wollte ich damals, im Spätsommer, nur schnell zu den Freunden nach San Francisco.

Die Reise im California Zephyr aber, diesem Silberpfeil mit seinen dreizehn Stahlwaggons, war dann ereignisreicher als gedacht. Nach und nach begann sich mein Notizbuch mit Geschichten zu füllen. Ich stritt mit einem Einwanderungsoffizier und teilte mit einer Britin mein Faible für Bahnreisen. Ich erfuhr bei einer Flasche Whiskey von der Tierliebe eines Hirnforschers, hörte die Erweckungsgeschichte einer schwarzen Predigerin und beobachtete die Verhaftung zweier Immigrantinnen aus Ghana. Ich strandete in Chicago und begegnete Obdachlosen und Hip Hop-Musikern, sah auf dem Weg westwärts Flutkatastrophen, Tent-Cities und Graffitis dreitausend Meter über dem Meeresspiegel.

Durch all diese Episoden – auch dies eine Erkenntnis ex post facto, am Schreibtisch entworfen – schien das Wesen Amerikas hindurch. Jede einzelne der Geschichten verkörperte einen Aspekt dieses vielgestaltigen Landes. Und erst wer Bild an Bild knüpfte – „in der Zusammenschau all dieser verschiedenen Winkel zu einem kubistischen Gemälde, einem amerikanischen Picasso deines Geistes“ – erhielt eine Idee dessen, was Amerika sein konnte.

Was dann am Ende der Reise blieb, Leitfaden auch für künftige Wagnisse, war die Erkenntnis, dass man hinein muss in ein Land, um es begreifen zu können. Und das nicht nur in einem geographischen Sinne. Denn echtes Verstehen, so das Fazit von Hello Stranger, meiner Reiseerzählung in 18 Kapiteln, ist nur in der Teilnahme möglich: „Das war das Missverständnis: Das reine Denken könne zum Erfassen der Welt anleiten. Im reinen Denken aber hast du sie schon verloren. Das reine Denken ist nichts als Weltlosigkeit.“

***

2011 war ich wieder in Nordamerika, wenn auch in einem anderen Land, diesmal in Kanada, unterwegs mit einem Working Holiday-Visum – der günstigsten Eintrittskarte in die neue Welt – und dem unbändigen Wunsch, als freier Autor zu reüssieren. Dort, in Vancouver, unter Hippies und Hockeyfans, fand ich endlich mal Zeit, diesen Text aufzunehmen.CIMG0469

Die eigentliche Aufnahme jedoch, in meinem kleinen Zimmer in East Vancouver – vorübergehend ausgelegt mit Bettdecken, um die Echos zu dämpfen – war nur eine Hälfte der sprichwörtlichen Medaille. Denn dann kam die Nachbearbeitung. Jeder Versprecher, jeder zu kraftvoll per Fußtritt untermalte Satz, jeder zu schwungvoll herausgeschleuderte Vokal musste mühsam herausgeschnitten werden. Mikrophone sind da gnadenlos ehrliche Zeugen. Und literarische Texte nicht unbedingt die besten Manuskripte für Hörbücher.

Denn was sich noch ganz flüssig liest, der dritte Nebensatz mit kunstvoll aneinander gereihten Alliterationen zum Beispiel, will dem Sprecher unter Umständen nicht ganz so leicht über die Lippen kommen. Was diese Erfahrung, den eigenen Text zu lesen, und sich über Stunden dabei zuzuhören, mit der eigenen Schreibe macht, kann ich jetzt noch gar nicht absehen. Dass es eine jedem Autor zu empfehlende Übung ist, steht außer Frage. Witzig ist es noch dazu. Und fast schizophren, mit sich selbst über die eigenen Versprecher zu lachen, auch.

Dass die Zeit bei der alten Logopädin mit Damenbart, deren Gardinen gelb von Zigarettenrauch gewesen waren und in deren Praxis es nach Kohl gerochen hatte, wohl investiert gewesen war, auch wenn ich sie damals, als Kind im Grundschulalter, lieber auf dem Spielplatz verbracht hätte, war jedoch nicht die einzige Erkenntnis dieser vielen Stunden vor dem Bildschirm. Denn auch wenn ich als Kind mit Hilfe der griechischen Therapeutin meine Sprachfehler in den Griff bekommen habe – eine wirkliche Sprecherausbildung fehlt mir. Manch eine Endsilbe wurde da beim Lesen von Hello Stranger verschluckt, verlor sich im provisorisch ausstaffierten Zimmer. Vielleicht aber liegt darin auch eine gewisse Authentizität. Denn so klingt das eben, wenn ich meine Texte lese. Unter Rappern heißt das Flow, so eine charakteristische Aussprache.

Auch, dass ein echtes Studio geholfen hätte, steht außer Frage. Aber welchem Aufnahmeleiter ist schon zuzumuten, stundenlang den gleichen Text anzuhören. Zumal in Deutsch, einer Sprache, die manch einen Kanadier an die gebellten Befehle eines Nazi-Offiziers in amerikanischen B-Movies erinnert. Ein Pop-Schutz vor der Mikrophonmembran schließlich, als Schutz vor sogenannten plosiven Konsonanten – für Nicht-Linguisten: das sind all die Ps und Ts, die gerne mal eine Aufnahme ruinieren wie Fehlzündungen die Ruhe einer Nacht – hätte die Zeit der Nachbearbeitung erheblich reduziert. Unter Umständen wären einem dann aber auch all diese Einsichten nicht so deutlich ins Bewusstsein gedrungen.

Letztendlich ist das fertige Resultat der Beweis, dass man das alles autonom und zum Nulltarif machen kann… with a little help from my friends. Und so ist dem französischen Mitbewohner zu danken, dass er seinen Mobilrecorder für ein paar Tage entbehren konnte, und dem kanadischen Vermieter, dass er sein Aufnahmestudio zum Mischen der Mitschnitte und für das Einspielen kurzer Gitarrenpassagen zur Verfügung stellte. Wichtig war auch die Unternehmungslust meiner Mitbewohner. Denn erst die Outdoor-Aktivitäten der Bewohner des Hauses in Vancouver, in dem ich ein Jahr lang gelebt habe, sorgten dafür, dass ich ein Wochenende lang Ruhe hatte, nunmehr drei Jahre alte Gedanken und Erlebnisse aufzunehmen. Und sorgten damit auch dafür, dass diese nun im Internet zu finden sind, als einzelne Kapitel im Web-Stream oder als gesamtes Hörbuch zum Download.

Der Milchbauer von Morsum

Manchmal, unterwegs auf seinem Trecker, hält Bauer Jens Nielsen einen Moment inne. Das Nachmittagslicht streicht warm über die Weiden. Möwen segeln träge im Wind. Man hört nichts außer dem Zwitschern der Vögel, draußen auf den Wiesen am Deich, wo jeder Besucher mit einer Vorwarnzeit von fünf Minuten ankommt – so weit kann der Blick schweifen. »Da draußen ist die Welt noch in Ordnung,« erzählt Bauer Nielsen, locker an die Tür seiner Meierei gelehnt. Dort draußen hat er Zeit, den Alltag auf seinem Hof Revue passieren zu lassen – Alltag, der noch heute dem Leben seiner Vorfahren gleicht, der vier Generationen Nielsens, die auf Sylt von jeher in Milchwirtschaft gemacht haben. Ein Leben in Wind und Wetter, zum mächtigen Takt der Insel.

Andere meinten früher: Du musst doch was tun, die Welt verändern. Aber Jens Nielsen brauchte das nicht. Ganz bewusst ist er rausgegangen, auf die Warft, zum elterlichen Hof, mit seiner Frau Sabine. Der hatte er beim Kennenlernen zunächst verschwiegen, dass er Bauer war: »Erst einfangen, dann die Wahrheit sagen.« Jens Nielsen lacht. Dass die Frauen sich Aufregenderes als ein Leben mit Vieh und Milchkanne vorstellen können, hat er früh gelernt. Aber ohne seine Frau, das weiß Bauer Nielsen heute, würde sein Laden den Bach runtergehen. Das Rechnungswesen macht sie, die Milchtüten hat sie entworfen, und auch manch eine Tour zur Auslieferung der Milch auf Sylt übernimmt Sabine Nielsen.

Wie viel Arbeit so ein Milchbetrieb macht, das hatte er schlichtweg verkannt, mit Anfang Vierzig, als er auf die Idee kam, eine Milch zu produzieren, die so schmeckt wie früher – ganz anders als die der Großproduzenten, näher dran am Urprodukt. So wie die Milch, die Jens Nielsen als Inselkind getrunken hat. Der Bauer, gerüstet mit jener gesunden Selbsteinschätzung, die sich zwischen Sarkasmus und Realismus einpendelt, grinst hintergründig: »Was bin ich blauäugig gewesen.« Wie viel Herzblut er in den Betrieb stecken musste. Wie viel Lebenszeit. Urlaub gab es in drei Jahrzehnten nur dreimal. Auch jetzt, wo Secina, die älteste Tocher, im Ausland lebt, kann er nicht weg von den Kühen. Manchmal kommt es ihm schon vor, als stehe er allein auf weiter Flur. Aus der Genossenschaft ist er ausgeschlossen worden. Ein paar Kollegen haben ihm nahegelegt zu verkaufen. Und auch die Behörden machen es Jens Nielsen alles andere als leicht. Seit 1999, der Öffnung seiner Meierei, werfen sie ihm einen Knüppel nach dem anderen zwischen die Beine: neue Hygieneverordnungen, Besuche beim Veterinärsamt, die Kontrollen durch das Hauptzollamt. Natürlich, Sicherheit ist wichtig. Aber alles keimfrei? Bauer Nielsen runzelt die Stirn: »Da will ich ja gar nicht hin.« Was bliebe denn da vom Charakter seiner Sylter Vollmilch? Die ist eben ein kleiner Exot, ein Nischenprodukt. Und dementsprechend arbeitsintensiv.

Eine Arbeit, die er keinem seiner Kinder zumuten möchte. Jetzt, wo die Knochen müder werden, muss er über die Zukunft nachdenken, und es ist klar, dass keines der Kinder den Hof übernehmen wird: »Die wollen weg von der Insel, studieren.« Bauer Nielsen ist froh, dass er ihnen Studium und Wohnung in der Stadt finanzieren kann. Auch dafür steht er jeden Morgen wieder auf. »Die Kinder,« reflektiert er, »sind genauso die Früchte all der Arbeit.« Der Kontakt zu ihnen flackert immer wieder auf, im Alltag mit Jola, der Jüngsten, und auch, wenn die drei Großen Svarn, Yahwe und Secina zurück auf die Insel kommen, in die heile Welt auf dem elterlichen Hof. Der Alte war immer zuhause, werden sie sich denken, hat immer auf der Klitsche rumgehangen. Hat sie als Kinder auf dem Mähdrescher mitgenommen, für einen Mittagsschlaf im Stroh abgelegt und erst eingesammelt, wenn ihre Köpfe wieder aus dem Korn aufgetaucht waren. Auch das ist Teil seiner Milchproduktion, das Ganzheitliche, in dem Arbeit und Familie noch eine Einheit bilden. Die Zeit für die Kinder, die muss man in die tägliche Arbeit mit hinein interpretieren: »Das gehört alles mit in den großen Topf.« Dafür, sagt Jens Nielsen, haben sie sich gelohnt, die vielen Jahre mit dem Vieh.

Doch gerade in der Saure-Gurken-Zeit, im langen Winter, wenn Inseltage kurz und dunkel sind, wird es auch monoton im Leben des Milchbauern. »Aber dann,« erinnert sich Jens Nielsen, »steckst du die Nase in die Luft und sprichst mit den Sternen.« Nachts, wenn der Wind kühl über die Felder fegt und kein Luftsmogkegel den Blick auf das Universum verdeckt. Wenn ein Hans-guck-in-die-Luft sich noch einmal ganz klein fühlen kann. Solche Blicke auf das große Ganze haben auch seine Arbeit verändert. Früher, da hat er sich noch einen Kopf gemacht um Gewinnmargen und Sollerfüllung. Heute vertraut er mehr auf die natürlichen Abläufe. Kühe kalben eben nicht nach Terminkalender. Er sieht das inzwischen gelassen – auch wenn es das Geschäft bedroht, weil zur Hauptsaison weniger Kühe Milch geben. Irgendwo muss sich die Natur ja selbst regeln: »Die bringt alles wieder ins Gleichgewicht.« Manchmal aber sind auch Jens Nielsen die Gesetze der Natur zu unerbittlich. Dann kriegen die jungen Kühe, die von den älteren vertrieben werden, ihr Futter zuerst. Harmonie im Sozialgefüge ist dem Bauer wichtig, bei Tieren wie bei Menschen: »Die Generationen müssen zusammenpassen.« Im Wohnhaus der Nielsens ebenso wie im angrenzenden Stall.

Ein Grollen kommt aus der Ferne, wo ein Tintenfass über den Himmel gestürzt ist. Jens Nielsen schaut hinüber zur Weide. Die knapp dreißig Kühe werden schon unruhig sein, ihre Euter prall, der letzte Melkgang bereits zwölf Stunden her. Pfeifend wird Bauer Nielsen sie schon bald wieder in den Stall führen. Mit ihren langen Schmirgelpapierzungen werden sie die hingeworfenen Brötchen aus dem Stroh lecken. Und dann wird die Anbindevorrichtung zuschnappen, um ihre Köpfe, und der Bauer wird die Melkmaschine an ihren Zitzen anbringen können. Filou, der greise Hofhund, wird es nicht hören, so taub wie er geworden ist. Aber sein jüngerer Nachfolger wird die Ohren aufrichten und danach horchen: nach diesem Pfeifen des Bauern bei seinen Kühen – nach dieser Zufriedenheit hier draußen, am Deich, im abgelegenen Morsum, wo Milch noch ein Leben bedeutet.

(Dieser Artikel erschien erstmalig in Natürlich Sylt 02/2010. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.)

Facebook und der Gletscher

Man fahre an einem beliebigen Spätsommertag über den Icefields Parkway, einer zweihundert Kilometer langen Autostraße in den kanadischen Rocky Mountains, und halte an einem der vielen Parkplätze entlang des Highway. Die Luft schmeckt frisch hier, auf zweitausend Metern. Im Schnee der Gipfel spiegelt sich die Nachmittagssonne und zwingt auch denjenigen, der noch nicht von der Weite der Täler und der Höhe der Bergriesen wie geblendet ist, die Augen zu schließen. Für einen Moment ist nur der Wind zu hören, leise, in den Wipfeln der Wälder.

Bis dann, noch ehe man die Augen wieder öffnet, etwas Anderes heran fliegt – ein Rumoren von Klimaanlagen, ein schweres Rollen auf Geröll. Man kann sie erahnen, bevor man sie sieht: Busse voller Touristen, vornehmlich Rentner, eifrige Pilger an entlegene Plätze. Es ist eine Szene, die sich millionenfach wiederholt; überall dort, wo Touristen an historische Stätten und Naturschauplätze gefahren werden. Als Weltwunder werden sie ihnen angepriesen, als not-to-be-missed. Auch auf den Athabasca Gletscher – unweit des Parkplatzes, an dem diese Begegnung stattfindet – finden solche Vokabeln Anwendung. Und so folgt man dem Strom der Touristen, einen asphaltierten Weg entlang, hinauf zur Zunge des Gletschers.

Doch angekommen, findet man statt Erhabenheit nur Ernüchterung. Da liegt die Eiswüste, grell und groß, genau wie auf den Postern im Informationszentrum. Aber etwas fehlt – etwas, das man hier oben zu finden geglaubt hat. Die Leere steht auch den versammelten Ehepaaren ins Gesicht geschrieben. Eine untersetzte Frau in Flip-Flops watschelt durch den Schnee auf einen blanken Felsen zu und fasst es aufrichtig in Worte, dieses vage Gefühl von deja-vu: „Fast so schön wie in Disneyland, der Stein!“ Sagt’s und steigt wieder in den klimatisierten Bus, in dem ihre Flip-Flops nun nicht mehr deplatziert, sondern wohl bedacht wirken.

Was ist das für eine Welt, in der das primäre Ereignis nur auf der Folie seiner Rekonstruktion wahrgenommen wird? In der wir nie bei der Sache selbst sind, sondern stets bei den Faksimiles, den Simulacra? In der die Wirklichkeit enttäuscht, weil sie nicht mit geweckten Erwartungen konform geht? Es ist eine Welt, in der alles Produkt ist – ein Produkt, das sich nach unseren Bedürfnissen zu richten hat, und nicht umgekehrt. Wir sind enttäuscht, frustriert, wenn wir von einem Produkt nicht das bekommen, was wir erwarten. Also gehen wir weiter, in unserem Kaufverhalten sowieso – ist die Möglichkeit der alternativen Wahl nicht die conditio sine qua non des Kapitalismus? – aber auch in Freundschaften, Beziehungen. Wir konsumieren unsere soziale Welt wie einen Sonntagabendfilm. Langweilig? – zap! Langweilig? – unfriend! Das ist die Facebook-Welt – und sie leidet unter einem massiven Mangel an dem, was man in der Entwicklungspsychologie „Frustrationstoleranz“ nennt.

Ein schrecklich moralistischer Ton schleicht sich in diese Betrachtungen. Große Umwälzungen finden nun einmal statt, möchte man sagen, und Facebook ist nicht mehr als ein Symptom, ein Ausdruck veränderter Sozialstrukturen. Was ist daran auch schon so falsch? Soll man seine Zeit in diesem einzigen Leben mit Dingen und Menschen verbringen, die man im Innersten ablehnt? Der Fortschritt macht es möglich, sich nicht mit dem status quo abfinden zu müssen. Jeder kennt das – dieses Gefühl, verdammt dankbar für die Errungenschaften der Moderne zu sein, für ihre Rechte und Chancen, ihre Technologie, ihren Individualismus. Warum auch sollte die Welt nicht optimierbar sein? Jahrtausende alte Fragen scheinen auf, ein Zwist zwischen Intervention und Meditation, zwischen Christentum und Buddhismus – Fragen, die alles andere als beantwortet sind.

Eine logische Fortentwicklung unseres Drangs nach Verbesserung des Gegebenen ist die Verschmelzung von CGI-Technologien mit dem menschlichen Wahrnehmungsapparat. Nichts anderes geschieht in der AR-Bewegung. AR steht für „Augmented Reality,“ was ungefähr so viel heißt wie „erweiterte Wirklichkeit.“ Da wird an Brillen und Kontaktlinsen gearbeitet, die sämtliche verfügbaren Informationen über Orte sammeln und visuell wahrnehmbar machen. Schon heute kommen Benutzer der einschlägigen Mobiltelefone in den Genuss, ihre Welt derart erweitern zu können. Der Mensch, der durch die Straßen einer fremden Stadt geht, bei einem Blick eine Straße hinunter in seinem Gesichtsfeld Restaurants, Shops und sogar die Orte erst kürzlich geschehener Verbrechen angezeigt bekommt, ist daher keine allzu ferne Zukunftsvision. Nur wessen beraubt er sich dabei, dieser Hyperinformierte in seiner optimierten Realität?

Eine Ahnung vom Preis, den er zahlt, lässt sich auf einem Berghang in den kanadischen Rockies finden, auf der anderen Seite des Gletschertales, über einen dicht gewachsenen Tannenwald hinweg. Wenn man plötzlich, unerwartet, nach einer langen Wanderung über dicke Wurzelstämme und sprudelnde Bergbäche schwer atmend ein Plateau erreicht, in der kalten Höhenluft auf dreitausend Metern, und der Blick hinüber fliegt, über das Tal und auf den Gletscher, und dieser auf einmal majestätisch da liegt – ja, geradezu ein anderer geworden ist – und wenn einen ein Gefühl ergreift, das dem Schaudern der ursprünglichen Entdecker wohl näher ist als der Enttäuschung des modernen Touristen.

Die Kommunikationsmöglichkeiten der Facebook-Gesellschaft machen unsere Welt einfacher, leichter navigierbar. Sie eröffnen Chancen des Erlebens – vergleichbar der Bereicherung, die eine gewachsene Mobilität früheren Generationen beschert hat. Das ist, zumindest in meinem Leben, ein Fakt. Andererseits ist ebenso ein Fakt, dass etwas verloren geht, wenn man den Bus nimmt. Derjenige, dem der Aufstieg zum Gletscher erleichtert wird, gelangt paradoxerweise an einen anderen Ort als derjenige, der den langen, steinigen Weg nimmt und vielleicht durch Zufall zum Eis gelangt. Es ist ein anderer Ort, auch wenn es derselbe ist. Denn der Weg modifiziert das Ziel – in den Höhen der Rocky Mountains wie im virtuellen Raum des Internets.

Les Demoiselles d’Amérique

Atme ein, nimm das alles auf, wie Löschpapier.

Der Tisch vor dir, fleckig mit fettigen Fingerabdrücken. In diesem kleinen Diner in Roxbury, nahe dem Apartment deines Bostoner Freundes. Der Jetlag, der dir einen Arm über die Schultern legt, dich zur Tischplatte zieht, mit seinen Händen über deine Lider streicht – eine Verführung, der es zu widerstehen gilt. Das Schild auf der öligen Fensterfront, hinter dem jetzt, um acht Uhr morgens, Frühaufsteher vorbeiziehen, und das, wenn du es dir gespiegelt denkst, Al’s als besten Diner der Stadt empfiehlt. Helen, die Kellnerin in ihren Vierzigern, mit strohiger Haarspray-Frisur und Augenringen, die dich zu deinem Tisch führt, durch das Interieur eines generischen Schnellrestaurants. Die roten Plastikbänke. Der saure Geruch von verschüttetem Kaffee. Der stechende Geruch von Putzmitteln. Die Musik, Country im Popgewand, ein unterschwelliger Klang. Der wässrige Kaffee vor dir, in dem sich träge Sahnewirbel drehen. Das mehrfach unterstrichene Schild über deinem Platz, das die Mindestanzahl der Personen, die den Tisch belegen dürfen, auf zwei festsetzt. Die schwarzen Cops, ein Mann, eine Frau, die eintreten und zum Glockenklang der zufallenden Tür ihre Bestellung in die Küche rufen. Al’s Scramble. Pancakes, Rührei, Toast, Kaffee. Sieben Dollar. Danke Al.

Du bist die Nacht hindurch wach gewesen, nur ab und an erlöst durch Minutenschlaf. Dann der Blick auf die Trabantenstadt, Downtown Boston im Morgendunst, von einem Felshügel über Backsteinblöcken und einem Stop and Shop. Du bist über leere Parkplätze gewandelt, um dort oben anzukommen, durch Überreste von kaputten Fernsehern und anderen Elektromüll. Du hast Turnschuhpaare auf Stromkabeln über schmalen Straßen baumeln gesehen. Gärten wie Junkyards, rostige Chevrolets, NRA-Aufkleber auf Hippiehäusern. Jetzt sitz einfach hier und schreib und lies das Memorierte. Genieß diese Selbst-Erschaffung, in der ersten Person, deinem flüchtigen Zuhause. Denn das alles sind Mythologien. Erzählungen. Wie dunkle Schemen im Sonnenlicht. Blinzele hinein und nimm die Schemen für das Wahre, das Einzige. Und dann schließ die Augen und wechsele den Winkel und öffne die Augen wieder und nimm auch diesen nächsten Punkt als fest und unverrückbar. Und dann gib auch diese Sichtweise wieder auf.

Es ist gar nicht schwer. Erinnere dich an die junge Lehrerin, gestern im Common, dieser weiten Grünfläche vor dem State House mit seiner orientalischen Goldkuppel. Sieh die Lehrerin vor der Statue im Park und hör zu, wie sie ihrer Gruppe schlaffgesichtiger Kinder von tapferen amerikanischen Soldaten erzählt, die nur zur Selbstverteidigung kämpfen: „Dieses Denkmal ist unseren Männern und Frauen an der Front gewidmet, und ich möchte, dass ihr daran denkt, wenn ihr hier vorbeigeht.“ Sieh die zwei Marines, uniformiert, die von vorbeifahrenden Autos mit einem aufmunternden Hupen und von einer Gruppe Jugendlicher mit bewundernden Blicken bedacht werden. Erinnere dich an die aufgebrachte Frau in signalroter Montur, die in der U-Bahn um ein paar Dollar bittet, ihr Blick halb Verzweiflung, halb Drohung: „Meine Brüder sind im Irak und in Afghanistan. Meine Mutter ist blind und dement. Danke, Sir, danke.“ Sieh die blankgeputzten Monumente, die an lange zurückliegende und derzeit stattfindende Kriege erinnern sollen, auch hier, im liberalen Neu England. Sieh ein Land im Kriegszustand.

Und dann setz dich auf eine Parkbank, ins warme Nachmittagslicht, und sieh ein Land im Frieden. Fühl den Wind auf deinem Gesicht, kühler als der Wüstensturm, der fernen GIs die Seele aufraut. Lies ein Gedicht. Riech das sonnenverbrannte Gras, eine Ahnung von Herbst. Such im Gesicht einer Frau nach einem Lächeln, und spüre Wellen dich durchlaufen, wenn du es gefunden hast. Sieh für einen ewigen Moment das Leben an als nichts als diesen Park, diesen Eindruckscluster, vor und nach dem gar nichts existiert, und nimm an, dass die Wahrheit manchmal davon abhängt, in der Sonne zu sitzen, gedankenentleert, bis die Bäume zu Schemen werden.

Der Common ist weder nur Krieg noch nur Frieden. Er ist wie das Leben, wie dieses Land. Er ist beides. Du kannst beides darin finden; es ist gar nicht schwer.

Nimm alles auf. Übe dich im Blinzeln. Genieß die Schemen. Richte deinen Kamerablick von abseits auf die Dinge. Sieh Al, den jamaikanischen Diner-Besitzer vor dir, wie er einen Berg Pastrami-Fleisch auf eine heiße Kochplatte schaufelt und sich einen Telefonhörer unter sein breites Kinn klemmt. Seine Worte sind an eine Amara gerichtet, am anderen Ende der Leitung, aber seine Blicke gelten der Polizistin vor ihm: „Oh Amara, deine Stimme… Du kannst jederzeit bei mir vorbeikommen. Für dich ist mein Fleisch umsonst, Baby.“ Die Polizistin kichert, beugt sich über die Theke, lässt ihre Blicke schamlos über Als grobe Hände laufen. Der große Jamaikaner lacht, zwinkert: „Oh Baby, Amara, ich liebe es, wenn du dich aufregst. Deine Stimme ist so… sexy.“ Ein weißer Junge mit Dreadlocks, knapp volljährig, kommt hinein, geht in die Küche, füllt dampfenden Kaffee in einen Pappbecher, nimmt einen eingewickelten Sandwich von der Theke, wirft Al eine Rolle mit Dollar-Scheinen entgegen, nickt ihm zu und verlässt den Diner wieder – das Ganze wortlos, mit dem Schwung der Routine. Sieh die Polizistin, wie auch sie durch die Eingangstür geht, einen Blick über die Schulter wirft, „Bye Al-Baby“ flötet. Wie ihr Schlagstock im Rhythmus ihrer Hüften wippt.

Und dann schließ die Augen und dreh dich nach rechts. Wenn du sie wieder öffnest, steht da eine Gruppe vor einem Stand mit Chips und Cola, vier Jungs im Grundschulalter – so eng beieinander, dass nicht zu erkennen ist, was sie mit ihren Händen anstellen, dort, zwischen den Tüten und Flaschen. Sieh, wie Als Lächeln gefriert, jetzt, wo sein effizienter Parallelflirt mit Amara und der Polizistin beendet ist. Wie er sein Fleisch schneller wendet, ohne den Blick von den Schuljungs zu nehmen, seine Halsmuskeln gespannt. Schließ erneut die Augen und beobachte beim Öffnen, wie die Jungs verstohlen zur Tür sehen. Wie diese aufgeht und eine schwarze Frau in Jeans und Trainingsjacke hereinkommt. „Jay, komm jetzt,“ ruft sie einem der Kinder zu, einem Jungen mit kurzgeschorenen Haaren und einem weiten T-Shirt, auf dem ausgerechnet der Rapper Jay-Z durch halbgeschlossene Augenlider lugt. „Yo, chill, Mom,“ erwidert Jay und wiegt sich in Richtung Eingangstür, ein Bein lässig nachgezogen, mit den Händen die schweren Baggie-Pants etwas vom Boden abgehoben. Die anderen Drei folgen in verschieden ausgeprägten Varianten des gleichen Gangs. Das Gesicht des Diner-Besitzers klart auf. „Morgen, Marian,“ sagt er und lächelt Jays Mutter an, die Schaufelbewegung, mit der er sein Fleisch umschichtet, wieder munterer, musikalischer. „Wieder zu spät zur Schule?“ Marian spielt Verzweiflung. „Oh Al,“ sagt sie, während Jay und seine Freunde an ihr vorbei durch die Tür gehen. „Mal für einen Tag mit dir tauschen. Ich manage deinen Laden, du kümmerst dich um die Kinder?“ Al lacht, seine Schultern beben. „Jederzeit, Marian, jederzeit.“

Trink deinen Kaffee aus und gib Al ein großzügiges Trinkgeld, selbst für amerikanische Verhältnisse. Dann geh hinaus in den Morgen und fahr mit der Orange Line bis Downtown Crossing und wirf den arbeitslosen Berklee-Absolventen mit ihren halbakustischen Gitarren im windigen U-Bahn-Schacht ein paar Dollarnoten zu, für gutes Karma. Wechsele auf die Red Line zusammen mit den Touristen und dem Flughafenpersonal und fahr bis zur South Station und nimm dort deinen Zug gen Westen, in das Herz Amerikas hinein. Schau, ob du es finden kannst, das Wesen dieses unendlich großen, paradoxen Landes, dort draußen, hinter den Appalachen, zwischen den Great Plains und den Rocky Mountains – denn etwas verstehen bedeutet, sein Wesen zu erfassen. Steig in den Zug und lass dich davontragen, auf den Schienen Amerikas. Vergiss nicht, ab und an zu blinzeln und deine Perspektive zu wechseln. Denk dir deine Eindrücke als fest nur für den Moment. Nur im ständigen Sprung von einem Blickpunkt zum nächsten, im Wechsel von einer Mythologie zur anderen, kannst du das Wesen der USA denken – in der Zusammenschau all dieser verschiedenen Winkel zu einem kubistischen Gemälde, einem amerikanischen Picasso deines Geistes.

(Dieser Text ist ein Auszug aus der Reiseerzählung Hello Stranger.)

Die Würde des zahnlosen Tigers

Der Ausgang des 18. Jahrhunderts war eine Zeit des moralischen wie politischen Fortschritts. Die gewaltsamen Revolutionen der neuen und alten Welt lagen nur ein paar Jahre zurück. Einstige Revolutionäre waren zu Politikern geworden, die nun den Alltag im Frieden zu organisieren hatten. Langsam floss der Freiheitsgeist ihrer Umstürze in die Gesetzesbücher. Schon 1776 hatte eine Gruppe von Juristen und Soldaten in Philadelphia erklärt, jeder Person stünden aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Gattung der Menschen gewisse unveräußerliche Rechte zu. 1789 dann stürmten aufgebrachte französische Bürger für ähnlich aufklärerische Gedanken die Pariser Bastille – ein Sturmlauf, der den Monarchen von seinem Thron stürzen sollte. Und irgendwann Anfang der neunziger Jahre dieses bewegten 18. Jahrhunderts saß der Philosoph Immanuel Kant im Wirtshaus „Zum ewigen Frieden“ und entwarf in einer gleichnamigen Schrift die Idee des Weltbürgerrechts.

Kant war ein glühender Bewunderer der Kämpfe der französischen Bourgeoisie. Als vorausschauender Denker fragte er sich jedoch, wie nach dem Ende der Aufstände der neu gewonnene Frieden zu sichern sei. Nur ein Bund aller Völker, überlegte der Königsberger Philosoph, wäre dazu in der Lage – keine Weltrepublik, vielmehr ein freiwilliger Zusammenschluss von Nationalstaaten auf Grundlage praktischer Vernunft. Kant war nicht daran gelegen, die Souveränität dieser Staaten anzutasten. Sein Ausgangspunkt war ein Gedankenexperiment. Angenommen, so Kant, es gebe einen Streitfall zwischen verschiedenen Staaten. Wie würde ein Gremium aller Völker, das für die Einhaltung der moralischen Menschenrechte verantwortlich ist, den Konflikt entscheiden? Die Ergebnisse einer solchen hypothetischen Urteilsfindung wären nach Kant ein Maßstab – für die moralische Güte der von individuellen Staaten gefundenen Lösungen. Letztlich aber auch für die Frage, ob ein Staat zu verurteilen sei, der gegen das Weltbürgerrecht verstoßen habe.

Heute, mehr als zweihundert Jahre später, haben wir erste institutionelle Schritte auf dem Weg zur tatsächlichen Durchführung der Kantischen Ideen bereits getan. Die Vereinten Nationen lassen erahnen, wie ein Völkerbund aussehen könnte. Jeffersons Worte und die Parolen der französischen Revolutionäre finden ferne Echos in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948. Und seit Beginn des neuen Jahrtausends verfolgt der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag die schlimmsten Verstöße gegen das Völkerrecht. An den Schwierigkeiten von internationaler Exekutive und Gerichtsbarkeit, solche Vergehen zu ahnden, zeigt sich jedoch ein fundamentaler Unterschied zwischen juridischen Rechten und Menschenrechten. Bricht jemand deutsches Recht, wird er von deutschen Gerichten verurteilt. Verstößt jedoch jemand gegen die Menschenrechte, ist nicht so klar festgelegt, wie und von wem dies zu ahnden ist. Ähneln die Menschenrechte also einem zahnlosen Tiger – imposant, doch letztendlich harmlos?

Manche behaupten, universelle Menschenrechte existierten nur als frommer Wunsch in den Köpfen unverbesserlicher Träumer. Im Miteinander der Völker dagegen, so die populäre Meinung, spielten sie keine Rolle. Der Fall des US-Gefangenenlagers Guantanamo jedoch, oft ein Beispiel für die Missachtung universeller Menschenrechte, kann so gelesen werden, dass an ihm die Wirkungsmacht der Menschenrechte deutlich wird. Denn nichts anderes als der wiederholte Hinweis auf die Diskrepanz zwischen den Erfordernissen der Menschenrechte und der Behandlung der Inhaftierten in Guantanamo veranlasste Bemühungen der Regierung Obama, das Lager zu schließen. Im Grunde aber ließen schon die Rechtfertigungsversuche des amerikanischen Militärs bei Verstößen gegen basale Menschenrechte auf deren de facto Realität schließen. Die Inhaftierten in Guantanamo, so das Argument, seien eben feindliche Kämpfer. Aufgrund dieses anderen Personenstatus kämen ihnen gewisse generelle Rechte schlicht nicht zu. Wer jedoch, wie in diesem Fall das US-Militär, zu legitimieren versucht, warum einer Person gewisse Rechte abzusprechen seien, gesteht zunächst einmal implizit ein, dass diese Rechte überhaupt existieren. Diese Grundannahme ist jeder Begründung für oder gegen die Anerkennung eines bestimmten subjektiven Rechts logisch vorgeordnet.

Die Realität der Menschenrechte ist also kaum anzuzweifeln – eine Realität jedoch, die der ständigen Pflege bedarf, gerade weil starke Institutionen fehlen, die für ihren Erhalt sorgen. Sie ist eine utopische Realität, die ihrer eigenen Umsetzung vorausgeht – solange als Utopie wichtig, wie die Menschenrechte noch nicht im geltenden Recht der einzelnen Nationalstaaten aufgegangen sind. Aber dies ist eine Pflege, die nicht allein den Institutionen überlassen werden kann. Gerade die Kunst mit ihrer Suggestivkraft ist in besonderer Weise dazu geeignet, die Idee der Menschenrechte ins Bewusstsein der Menschen zu heben. Auch ein zahnloser Tiger kann Ehrfurcht erwecken, Bewunderung. Dazu bedarf es jedoch einer Darstellung, die Ehrfurcht und Bewunderung einflößt. Und an einer solchen Repräsentation malen die hier versammelten Künstlerinnen gemeinsam. Da werden Szenarien heraufbeschworen, Lösungen durchgespielt, Fragen aufgeworfen. Elsa Klever, Clara De Villiers, Lena Personn, Katinka Reinke und Andrea Tomzcak deuten auf die Unrechtszustände unserer Welt mit Bildern aus einer anderen Welt – spielerisch, oft traumartig, manchmal alptraumartig. In ihren Illustrationen werden Machtverhältnisse allegorisiert, Gefühle erfahrbar, Argumente konkret. So erscheint in den Bildern dieser fünf Künstlerinnen ein anderer Tiger – vielleicht zahnlos, doch prächtig; vielleicht zahm, aber mächtig. Einer, der es nicht nötig hat, die Pranke zu heben, weil schon die Würde, mit der er vorbei stolziert, überzeugt.

(Dieser Text erschien erstmals als Vorwort des Sonderdrucks “Menschenrechte” der Hamburger Hochschule für angewandte Wissenschaften – Armgartstraße)

Inside a video

Dass dieses Video nun zu sehen ist, ja, dass es überhaupt existiert, verdankt sich einem unfreiwilligen Zahnarztbesuch. Und dem Internet. Beziehungsweise einer Kiez-Spielhalle – scheinbar dem einzigen Ort auf der gesamten Reeperbahn, an dem eine drahtlose Verbindung zum World Wide Web zu finden war. Aber der Reihe nach.

Menschen tun ja bekanntlich dumme Dinge unter Stress. Und so war es wohl auch kein Wunder, dass Songwriter und Sänger P. einen folgenschweren Fehler beging, als Filmemacher K. ihn am Montagnachmittag zuhause abholte. Ein Musikvideo für P.s neues Lied sollte gedreht werden, im Schnellverfahren, mit einer kleinen Kamera, die Musik vom MP3 Player – Guerilla-Style, ohne Drehgenehmigung, rein, drehen, raus. Anvisierter Ort: der alte Elbtunnel. Klar, ein Musikvideo-Klischee, aber auch der Song erfindet ja die Stromgitarre nicht gerade neu, und so schien das zu passen. Ideen – Dramaturgie, Stil, Schnittfolgen – wurden erstmal verschoben. K.s Philosophie: mal gucken, vor Ort schauen, improvisieren. Den Ort auf sich wirken lassen.

Eines war allerdings klar: Irgendwie muss Sänger P. ja runter in diesen grellen Tunnel. Dass die holzverkleideten Fahrstühle für Kraftfahrzeuge mehr Augenfutter sind als die modernen Personenaufzüge war auch keine Frage. Aus der Information, dass diese Lastenaufzüge nur bis abends um acht betrieben werden, ergab sich jedoch ein Stresspotential, das bei Ankunft von K. in P.s Wohnung einen ersten Höhepunkt erreichte. „Mach mal hinne, die warten auch nicht auf uns.“

Es ist fast sieben, der Feierabendverkehr liegt da wie das Labyrinth des Minotaurus, und der MP3 Player streikt. Ist einfach eingefroren, noch verkabelt mit P.s Laptop, kurz nach der Übertragung des Musikstücks. P. würde jetzt gern die kleine Schwester verfluchen, wenn die ihm das Gerät nicht quasi geschenkt hätte und im Übrigen sowieso ganz reizend ist. Einfache Schuldzuweisungen gehen also nicht. So entlädt sich die Aggressivität in hektischem Betätigen verschiedener Tasten auf dem eingeschlafenen Gerät. Irgendwann regt sich was. P., glücklich, auf dem Sprung, bestätigt die nur flüchtig gelesene Frage. Irgendwas mit Löschen. Egal, Hauptsache das Ding spricht wieder mit einem. Und los!

Wäre diese Heldengeschichte ein Film, würde jetzt ein Cut kommen, um nach einer Raffung von fast einer Stunde direkt in den Tunnel zu schneiden. Wo sie stehen, K. und P. und Assistent Zwei-K., und den Shoot beginnen wollen. Aufnahmen vom Aufzug haben sie gekriegt, kurz vor Arbeitsschluss der gelangweilten Beamten, die das kleine Filmteam wohl als willkommene Abwechslung gesehen haben werden. Jetzt die Bilder den langen Tunnel hinunter. P. holt den MP3 Player hervor. Doch auf dem Gerät befindet sich keine einzige Datei. Nichts. In den Referenzbereich dieses Nichts fällt dabei auch der neue Song. P. ist erbost, verflucht die eigene Dummheit, erinnert sich an die Frage auf dem Display: Für Löschen bitte hier drücken. Ok, zwar wird dadurch nicht klar, was da gelöscht werden sollte. Aber das L-Wort sollte bei Menschen des digitalen Zeitalters doch eher Stressflecken als unbekümmerte Bestätigung auslösen – das weiß nun auch P., der nach überwundenem Schockmoment schon auf dem Weg zum Kiez ist. Zum Glück gibt es „Inside a dream“ ja runterzuladen. Und in frischer Erinnerung an die WLAN-Dichte auf San Franciscos Valencia Street oder am Times Square meint P. jetzt auch auf der Reeperbahn ohne Probleme ein Café mit offenem Netzwerk finden zu können. Sogar einen Kaffee oder ein Bier wäre er bereit zu kaufen.

Aber die Cafés auf dem Kiez verpassen dieses gönnerhafte Angebot. Ebenso die Restaurants. Und die Hotels. Die Frage nach WLAN zaubert nur verständnislose Blicke auf Kellner- und Hotelier-Gesichter. Eine Spielhalle ist es schließlich, wo P. sich dann doch noch einloggen kann. Es ist dunkel dort, riecht nach angetrockneten Alkohollachen, und das Publikum zwielichtig zu nennen wäre zwar ein Klischee, aber dennoch ganz zutreffend. Die Internetverbindung jedoch ist schnell. Der Balken, der den Fortschritt des Datentransfers darstellt, jagt von der einen Bildschirmseite zur anderen. Und fast ebenso schnell sind P. und K. wieder bei Zwei-K., der geduldig in die Röhre geguckt hat, im intensiven Zwiegespräch mit einer Dose Holsten. Kaum ist der MP3 Player mit dem heruntergeladenen Stück ausgepackt, der Song ein paar Male angespielt, die nächste Überraschung: Das Ding ist wieder eingefroren. Schockgefroren wie P.s Gesicht bei dieser neuen Entwicklung. Einmal entspannt es sich kurz, als P. einen Reset-Knopf an der Unterseite des launischen Geräts bemerkt. Doch die Haarnadeln, die sich K. von zwei Frauen leiht, wollen nicht in das Loch passen, das den Knopf verbirgt.

Die Rettung sind Zahnschmerzen. Wegen solcher nämlich war Filmemacher K. noch vor kurzem beim Arzt gewesen. Und hatte nach überstandener Tortur einen Zahnstocher mitgenommen. Es leben Cowboy-Klischees. Denn dieser Zahnstocher ist es, der nun, als sei er nie für etwas anderes geschaffen worden, in das kleine Reset-Loch passt, zum Jubel der Beteiligten.

Der Rest des Drehs dann: plain sailing. For real. Nichts kann sie jetzt noch aus der Fassung bringen, K. und P. und Zwei-K. Nicht die betrunkenen Arbeiter vom Hafen, die unbedingt gefilmt werden wollen und Gefallen an P.s Gitarre finden. Nicht die lärmenden Kinder in Bayern-München-Trikots. Erst recht nicht das Auftauchen eines zweiten Filmteams im Tunnel. Mit großem Equipment kommen die an. Dolly, Riesenkamera. Große Crew. Brauchen wir nicht, denken P. und K. Wir brauchen nur drei Mann, die Canon 5D MKII und einen MP3 Player. Und das Internet. Ok, ja, und einen Zahnstocher.

Grenzgänger, oder: In naher Ferne, so weit!

Im Spätsommer letzten Jahres bin ich um Hamburg herumgewandert und habe über die Tour einen Essay verfasst. Dieser beginnt mit dem Versuch, die eigene Stadt von der Peripherie aus neu zu entdecken und führt zu der Frage, ob es originär neuartige Erlebnisse geben könne. Auf dem Weg dorthin, über das Alte Land die Elbe hinunter und zurück in den Norden der Stadt, begegne ich unter anderem der Blankeneser High Society, Pendlern aus den Vororten und der allgegenwärtigen Präsenz des Fernsehturms in der Ferne. Nun ist Grenzgänger, oder: In naher Ferne, so weit! bei Textem veröffentlicht worden.

Whitmans Wunderkabel, oder: Was sucht die Seele im Internet?

Der amerikanische Dichter Walt Whitman war ein begeisterungsfähiger Mensch. Mit einem für das 19. Jahrhundert typischen Fortschrittsoptimismus feierte er nicht nur die transkontinentale Eisenbahn, sondern bedachte auch den Telegraphen, der die Menschen der alten und neuen Welt minutenschnell näher zueinander brachte, mit hymnischen Worten. Ein modernes Wunder sei diese Technologie, schrieb Whitman in Passage to India, bei der die See, so die typisch Whitmanschen Animismen, mit „eloquent gentle wires“ ausgelegt werde.

Und doch, wichtiger als der Sanftmut und die Wortgewandtheit der neuen Wunderkabel, wichtiger noch als sein eigener Enthusiasmus im Angesicht der technischen Möglichkeiten des Industriezeitalters, war Whitman die Anbindung an etwas viel Älteres: „Yet first to sound, and ever sound, the cry with thee O Soul, The Past! the Past! the Past! the Past!“ Auch durch die Kabel am Meeresgrund sollte der Ruf der menschlichen Seele erklingen, in einer ewig währenden Frage an die Vergangenheit. Wir, die wir uns heute für wieder andere Wunderkabel begeistern, sollten in diesen Whitmanschen Ruf der Seele einstimmen. Was aber ist es, was die Vergangenheit uns erzählen kann? Was können wir von ihr lernen, wenn es darum geht, das Internet, die mächtigste Innovation unserer Zeit, im Dienst der menschlichen Seele zu nutzen?

Wenn schon Vergangenheit, dann richtig. Gehen wir also weit zurück, ins vierte Jahrhundert vor Christus. Da sitzt in Athen ein Mann namens Platon in seiner Akademie, vor einer Gruppe auserwählter Schüler. Natürlich haben sie sämtliche Schriften ihres Lehrers studiert; die Akademie war ein esoterischer Zirkel, da kam beileibe nicht jeder hinein. So wissen all diese Schüler auf der halbkreisförmigen Bank vor Platon, was nun kommen wird. Eine Generalabrechnung mit der damals aufkommenden, das geistige Leben revolutionierenden Schriftkultur. Weil der Mensch inzwischen aufschreiben könne, was vorher noch durch beständige Wiederholung auswendig gelernt werden musste. Und daher, so führt der Philosoph aus, verkümmere sein Gedächtnis.

Die Schüler lauschen andächtig. Da erhebt einer von ihnen, ein neuer, der sich dem Meister gegenüber beweisen möchte, keck das Wort. Wo denn der Unterschied sei, will der Schüler wissen, ob man die Tafel des eigenen Geistes beschreibe, oder eine tatsächliche? Sei nicht letztere, in der Welt vorfindliche, sogar präziser, unbeugsamer? Warum sie also nicht begrüßen, diese neue Technik, die es erlaube, den Geist auf Angenehmeres zu lenken als auf die immer gleichen Simonides-Verse? Ein paar andere mögen den Dichter Simonides auch nicht sonderlich und beginnen zu lachen, doch verstummen schnell. Dies ist die Akademie, rufen sie sich zur Räson – ein Ort der ernsten Reflexion, kein Amphitheater. Doch öffentliche Approbation im Rücken, wähnt sich der Schüler schon stärker im Streit der Argumente und wirft noch hinterher, auch Platon selbst habe seine Gedanken ja schließlich dem Papyrus anvertraut. Werde damit seine Position nicht widersprüchlich?

Der große Dialektiker erhebt sich und schmunzelt. Tatsächlich, beginnt Platon, schätze auch der philosophos die Möglichkeit, in Schrift das Erkannte festzuhalten. Nichts, sinniert er, bereite ihm mehr Freude als das Spiel mit den Worten, des Abends, allein mit Wein und Rohrfeder, wenn die Musen sich für das morgendliche Opfer erkenntlich zeigen. Einen Moment blickt Platon in die Ferne und der Schüler lächelt, glaubt sich siegreich. Doch dann fasst sich der Philosoph und geht einen Schritt auf seine Zuhörer zu: Ob er, der Schüler, aber merke, was er gerade getan habe? Seine eigene Rückfrage an den philosophos: Könne er eine solche auch an die Schrift richten? Könne die Schrift nicht immer nur das Gleiche sagen, ob der Schüler nun verstanden habe oder nicht?

Und dann redet Platon nach einer Pause, während der man das Rascheln von Sandalen im Sand hören kann, wieder zum ganzen Auditorium, sein Ton nicht mehr die barsche Zurückweisung eines Einwandes. Wer liest, sagt er mit dem Duktus des Wissenden, der tut dem logos des philosophos Gewalt an. Wer liest, muss eine fremde Stimme in seine eigene Stimme hinüberziehen. Stößt er dabei auf etwas, was er nicht versteht, so kann er nicht fragen, wie es gemeint war. Denn der Schreiber ist nicht anwesend. Und die Schrift wird ihm nicht antworten. So spricht er in seiner Seele mit einer Doppelstimme – nicht ganz die fremde des Schreibers, aber auch nicht ganz seine eigene. Die Schüler nicken, als der Philosoph ergänzt, nur im mündlichen Gespräch, wie hier in der Akademie, spreche jeder mit seiner eigenen Stimme. Nur im Gespräch sei jeder eins mit sich selbst. Die Schrift dagegen, fasst Platon zusammen, hebt diese Einheit auf und führt zu Missverständnissen, die weder durch Interventionen des Schreibenden, noch durch Nachfragen des Lesenden geklärt werden können. Auch der Neuling unter den Schülern nickt nun bedächtig, und bleibt noch stumm, als der Zirkel der Auserwählten gedankenversunken einer nach dem anderen die Exedra, den Vorlesungssaal, verlässt.

So wie der mutige Schüler können auch wir von unserem Besuch in der platonischen Akademie die Erkenntnis mitnehmen, dass die Schrift entfremdet, dass sie die ursprüngliche Einheit der Mündlichkeit aufhebt – die direkte Konfrontation von Proponent und Opponent. Es wird fast zweieinhalbtausend Jahre dauern, bis ein anderer mutiger junger Mann namens Marshall McLuhan eine Rückkehr dieser ursprünglichen Einheit erkennen will. Wohl ohne es zu wissen, wird der kanadische Theoretiker das dialektische Denkmodell der Hegelschen Philosophie auf die Entwicklung der Medien übertragen und im Fernsehen eine Aufhebung der Entfremdungen der Schriftkultur erblicken. Und, Platon wäre selig gewesen, im Gespräch wird McLuhan die kryptischen Gedanken seines Pop-Literatur-Klassikers Understanding Media verwirrten Lesern erläutern müssen. So wie an einem verregneten Nachmittag Mitte der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts, in einem Hotel-Café in Toronto.

Ob McLuhan das tatsächlich behaupten wolle, will der Interviewer eines Kultur-Magazins wissen: Dass Inhalte im Grunde irrelevant, die diese Botschaften transportierenden Medien aber dagegen von größtem Einfluss auf die geistige Entwicklung der Gesellschaft seien? Der Befragte nickt cool. Würde das aber nicht bedeuten, ereifert sich der Journalist, dass Kriegsreportagen die gleichen Auswirkungen auf eine junge Psyche hätten wie Kinderprogramme? Ob er das ernsthaft meine? McLuhan zuckt mit den Schultern und sagt schlicht: Ja.

Schauen Sie, beginnt er seinem aufgebrachten Gegenüber zu erklären, ich unterscheide zwischen heißen und kalten Medien. Ein heißes Medium verlangt vom Konsumenten weniger Beteiligung als ein kaltes. Der Journalist, der als Student Platon gelesen hat, denkt einen Moment nach und fragt: Also ist ein Buch heißer als ein Dialog? Genau, stimmt McLuhan zu, und das Fernsehen kälter als das Buch. Etwas eingenommen von dieser neuen Terminologie nickt der Journalist zunächst, stutzt dann jedoch, und gibt zu bedenken, dass das Fernsehen doch viel passiver mache. Dass doch ein Buch viel mehr Fantasie erfordere, um verstanden zu werden; schließlich müssten da doch Worte in geistige Bilder umgewandelt werden – beim Fernsehen müsse man ja nur hinschauen. Der Medientheoretiker kratzt sich am Kopf; er hat das schon so oft erklärt, irritierte Zuhörer in die Untiefen seiner Gedanken hinabgeführt.

Aber ignorieren wir McLuhans Antwort, sie wird auch uns nicht erhellen. Verlassen wir das Café, das Wichtigste haben wir gehört. Und auch wenn man McLuhans griffige Zuspitzungen nicht mitmachen möchte, so hat er sicher darin recht, dass Medien keine neutralen Hüllen sind – Vasen, in denen Inhalte transportiert werden; selber nur schmucke Vehikel, ohne Einfluss auf Sender und Adressaten. Nein, Medien verändern uns, prägen unsere Sinne. Nichts anderes als diese Einsicht liegt ja schon Platons Schriftkritik zu Grunde. Aber auch McLuhans engagiertem Gesprächspartner ist zuzustimmen, wenn er die These kritisiert, das Fernsehen erfordere gegenüber dem Buch eine erhöhte Interaktionsbereitschaft, sei daher gar so etwas wie die Wiederherstellung der Einheit des mündlichen Gesprächs auf höherer Ebene. Dem Mann ist auf die Schulter zu klopfen und beizupflichten: Fernsehen und Film, primär optische Medien, lassen die Vorstellungskraft des Menschen verkümmern, da sie all das einfach zeigen, was sich der Lesende noch vors geistige Auge rufen musste.

McLuhan hat die Geburt des Internets als populäres Massenmedium nicht mehr erlebt, er starb Anfang der achtziger Jahre. Aber sicherlich hätte er – als Methusalem, der er nicht geworden ist – im Netz ein Konglomerat aller vorherigen Medien erblickt. Vielleicht wäre ihm aufgegangen, dass erst das Internet, nicht schon das Fernsehen, die Rückkehr zu einer ursprünglichen Direktheit möglich macht – und das nicht unter Verzicht auf errungenen Fortschritt, sondern unter Einbindung der Dauerhaftigkeit des Schriftlichen und der visuellen Kraft des Fernsehens. Das Internet ist objektives Gedächtnis und Bildmaschine, aber es ist eben auch eine digitale Agora. Als solche vernetzt es Menschen, die sich sonst nie im Leben zu Gesicht bekämen. Wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe, liegt in dieser Unmittelbarkeit die Chance, die weitreichenden Forschungsprojekte unserer Zeit über globale Netzwerke zu diskutieren und so zu bestmöglichen, alle relevanten Einwände integrierenden Thesen zu gelangen, nach denen sich dann unser Handeln als Menschheit richten kann. Unter Rückbesinnung auf den unternommenen Ausflug in die Geschichte der Medien ließe sich dazu ergänzen: Es gilt dabei, die Einheit des mündlichen Gesprächs wieder herzustellen.

Das Internet nur für Entertainment zu nutzen, wäre schade. In der Idee des Netzes als weltumspannendem Marktplatz dagegen liegt die Möglichkeit, Proponenten und Opponenten verschiedener Erdteile einander direkt zuzuführen. Die Technologie dafür liegt ja schon bereit. Wäre es nicht möglich, Algorithmen wie den der virtuellen Kontaktmaschine Chatroulette, bei der die Kontaktfreudigen unser oft einsamen Digitalwelt per Zufallsprinzip aufeinander treffen, so umzuprogrammieren, dass Teilnehmer an politischen Diskussionen einander zugewiesen werden? Dass jemand, der einen Einwand zu einer aufgestellten These hat, dem Proponenten per Webcam begegnen könnte, weil das Programm den thematischen Bezug erkannt hat? Entwicklungen im Bereich der latent semantischen Suchmaschinenoptimierung lassen auf derart „intelligente“ Algorithmen hoffen. Und ließe sich so nicht auch das Versprechen globaler Meinungsfindung mit der platonischen Forderung verbinden, ein Proponent müsse seinem logos helfen, seinen Zuhörern direkt Rede und Antwort stehen können?

Natürlich lauern auch im Internet die Gefahren vergangener Technikrevolutionen – der Verlust an subjektivem Gedächtnis, das Verkümmern bildlicher Fantasie. Von Platon aber lässt sich lernen, dass man neue Medien nicht bewältigt, indem man sie ignoriert. Um an den mutigen Einwand des Schülers in der Akademie zu erinnern: Auch Platon hat geschrieben. So gilt es, die neuen Medien nicht zu verteufeln, sondern sie zu feiern wie Whitman seine „gentle eloquent wires.“ Erinnern wir uns also an die Geschichte der Medienrevolutionen und schicken wir durch die global verlaufenden Kabel unserer Zeit, über Satelliten und durch Funknetze den Whitmanschen Ruf „The Past! the Past! the Past! the Past!“ Soll es wahrhaftig im Dienst der menschlichen Seele stehen, so muss auch das Netz letztlich zu einer ursprünglichen Direktheit zurück führen, zum Kontakt von Mensch zu Mensch.

Braucht der Weltgeist ein Facebook-Profil?

Der Weltgeist, proteischer Genosse der Zeit, aus den Wirren des Napoleonischen Europas ins Bewusstsein des Beamtensohns Gottfried Wilhelm Friedrich Hegel gestiegen, um sich nach dessen Ableben im Diesseits der Marxisten einzurichten, fasst sich wieder. In einer Sphäre, wo sich abbildet, was in der Welt so vor sich geht; welche Ideen diskutiert und verwirklicht werden. Wo alle Denkoptionen nebeneinander stehen, gesammelt, in verschiedenen Zeichen und Systemen; wo, in Gänze gedacht, die Gesamtheit des menschlichen Reichtums aufscheint – ein Ausschnitt aus der unendlichen Menge an Aspekten und Hinsichten, die auf den unerreichbaren Gegenstand Welt gerichtet werden können. Die Apologeten der neuen Medien haben Recht, auch wenn sie das anders meinen: Die Wahrheit liegt im Internet – potentiell zumindest.

Hochmetaphorisch das ganze, und doch reden wir kaum anders, vom Schulkind bis zum Geschäftsführer. Man trifft sich im Netz. Man findet auf Facebook etwas über den besten Freund heraus, auf dessen Pinnwand. Später schickt man ihm vielleicht das digitale Äquivalent einer Depesche, schneller als alle Pferde der Welt zusammen. Eine Welt wird da von uns heraufbeschworen, herbeigeredet. Selbstverständlich nicht nur eine reine façon de parler – das dürften diejenigen am besten wissen, die mit in diesem Jenseits verdientem Geld die Miete bezahlen. Manchmal ist es instruktiv, sich abseits zu stellen, wie ein Anthropologe, und diesem merkwürdigen Geschehen zuzuhören, es zu beobachten. Da sitzen Millionen vor kleinen Kästen oder starren auf tragbare Miniaturversionen, reden von unsichtbaren Plätzen und Dingen. Vom Netz – nirgendwo zu finden, hier, im Reich von Raum und Zeit. Von Suchmaschinen – sicher ganz andere Gebilde als die Maschinen, die noch unsere Großväter schweißbefleckt bedient haben. Von Crawlern – kleine Insektenprogramme, die durch das Netz eilen, Informationen aufsammeln wie Bienen Blütenstaub, um sie auf Servern abzuladen, nahrhafter Honig für orientierungshungrige User.

Lauter abstrakte Gegenstände, die wir im Sprechen miteinander erschaffen. Lauter magische Orte und Vorgänge. So anders ist das nicht, wenn ein Voodoo-Priester redet oder wenn der Urmensch die Götter im eigenen Leben walten sieht. Ceres, deren Gnade das Feld fruchtbar macht, die Ernte gelingen lässt. Thor, der Blitze schickt, das Firmament mit seinem Hammer zum Erzittern bringt. Wir glauben uns weit abseits solcher Beschwörungsformeln, aber die Kräfte unserer Zeit sind nicht erdgebundener. Unser Mythos ist das Internet, wo Bewusstsein ausagiert und gespeichert wird, wo der Weltgeist zu sich selbst kommen kann, sich als verwirklicht sehen kann, im unmöglichen Blick auf das Ganze. Wo er seinen eigenen Fortgang beobachten kann, verewigt in Serverfarmen, von heißem Sand umgeben. Wollte man streng reden, wie viele dieser Worte müsste man in Anführungszeichen setzen. Überhaupt, wie viele Worte der Umgangssprache? Unsere Welt auf rein Konkretes zu beschränken wäre nicht nur schade, es wäre auch ein Verlust an Erkenntnis, es würde den Geist beschneiden. Das gemeinsame Sprechen schafft Realitäten. Treffe ich mich mit dir bei Facebook, so ist das, als gingen wir zu einem gemeinsamen Freund. Treffen wir uns auf Facebook, so ist die Internetplattform eine Art digitale Agora.

Diese zweite Metapher deutet aber schon darauf hin, dass hier auch ein Potential versteckt ist. Natürlich kann man sich bei dem Freund nur zum Vergnügen treffen. Auch auf dem antiken Marktplatz mag ja der gemeinschaftliche Aspekt eine Rolle gespielt haben. Aber schnell wird dort, wo Menschen zusammenkommen, das Gemeinsame zum Thema. Probleme werden aufgeworfen, herüber getragen aus einer anderen Situation, oder es entstehen neue, weil Menschen mit ihren Partikularinteressen nun mal verschieden sind, weil sie sich nicht eins sind, über das, was gemeinsames Leben ausmachen solle. Das ist eine Konstante, dieses Wechselspiel von Ruhe und Aufmischung, Handlung und Widerstand: Man setzt sich darüber auseinander, was zu tun sei, will die richtige Umgangsweise finden – die eine, welche beste Chancen auf Erfolg verspricht. Bei dem Freund ist das noch überschaubar, da kommen zwei, drei Ansichten zusammen, meist über Probleme lokaler Art: Wie wollen wir zusammenleben, in diesem kleinen Kreis? Geht das so, wie die Freundin sich verhält, darf man das? Ist es in Ordnung, dass ein Freund einen anlügt, um jemand anderen zu schützen? Wir Menschen sind in der Freiheitsfalle: wir können anders als wir erzogen wurden; wir können einen Denkvorgang zwischen das Bemerken einer Situation und das Ausführen einer konditionierten Handlung schieben. Das ist das Hässliche und zugleich Wunderschöne an uns; das ist unsere Crux und die Möglichkeit unserer Rettung. Aber aus dem Wissen um diese Situation, daraus entsteht Verantwortung.

Die Alternative gibt es im Film „Matrix“ zu sehen. Da ist ein Mensch, dem die Illusion seiner Welt aufgeht, und der den Weg zurück in die Bewusstlosigkeit wählt, durch einen Deal mit den Kräften, die die Matrix aufrechterhalten. Kein Zufall, dass der Mann von den Brüdern Wachowski nicht gerade positiv gezeichnet wird. Nach gewonnener Einsicht zu handeln, sich einem neuen Level an Bewusstheit zu stellen, es nicht mutlos zu verlassen, zu vergessen, im Rausch der Ignoranz – das ist etwas, was auf der Ebene des Subjekts mit Würde und Selbstwert zu tun hat, mit der Einheit von Rede und Handlung, mit der großen Idee, sich selbst gegenüber konsistent zu werden. Auf der Ebene des Kollektivs ist es die einzige Hoffnung, die wir haben. Das Weltklima, die Patentierung des Lebens, die Gefahren von Kernwaffen: Über Handlungen und ihre Alternativen diskutieren, das machen die Leute schon ganz von allein, das geschieht schon immer. Dass aber wir alle an solchen großen Themen beteiligt sind, das ist eine Höhe an Bewusstheit, zu der viele erst aufsteigen müssen. Und wieder ist ein solches Bewusstsein natürlich Fluch und Segen zugleich. Aber in der Wahrheit zu leben, und das bedeutet eben unter Orientierung am Gelingen des gemeinsamen Lebens, erfordert Mut im Sinne verständiger Charakterstärke.

Sich einmischen also – um der Wahrheit eine Chance zu geben, ans Licht zu kommen. Nicht DER Wahrheit schlechthin, mit einem Artikel in Kapitälchen, sondern dem immer Wahreren. Das Gute, das Wahre, das sind regulative Ideale. Wir streben sie an, aber weil uns unsere historisch gewachsenen Formen des Handelns und Denkens in ihren Bedingt- und Beschränktheiten gefangen halten, kommen wir nicht ans absolute Wissen. In einem gewissen Sinne gibt es solch ein Wissen auch gar nicht. Ebenso wie nirgends in der Welt ein Kreis zu finden ist, gibt es immer nur das Bessere, welches wir erst im Rückblick auf Überwundenes erkennen können. Und das bisher Beste ist das im menschlichen Zusammenleben Realisierte, die tradierten Institutionen – das Beste insofern, als es sich im Leben der Menschen als konstruktiv Widersprüche überschreitend erwiesen hat. Näher heran an Wissen kommen wir nicht. Im Prozess der kritischen Teilnahme an der Fortentwicklung dieser Institutionen liegt daher eine Notwendigkeit, damit die menschlichen Konstruktionen auch tatsächlich als gültig und idealiter alle bisherigen Einwände integrierend ausgewiesen werden können; damit nach ihnen gehandelt wird, damit sie Wissen des Guten werden können, damit sie einen gerechtfertigten Aufforderungscharakter beanspruchen können. An diesem Punkt der gemeinsamen kritischen Prüfung setzt mein Gedankengang ein, für die Orientierung in einer Welt, in der die existenziellen Probleme nicht mehr lokal zu sein scheinen – das sind sie natürlich, Recht verstanden, auch; aber zu der Einsicht muss man halt erst einmal kommen und das geschieht nur über den ganz großen Blick. In unser globalisierten Welt muss auch der Prozess der gemeinsamen Prüfung global handlungsleitender Thesen global ablaufen. Und das Instrument, das zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit auch nur ansatzweise dazu verhelfen könnte ist – genau, das Internet.

Wenn die Entwicklung weiter so fortschreitet, dann ist das weltweite Netz bald der öffentliche Raum und die Öffentlichkeit damit so zugänglich wie nie zuvor. Wie viele Menschen haben die ersten Bücher erreicht, die ersten Zeitungen? Und welch einen Zuwachs an Bewusstheit in der öffentlichen Diskussion hat diese Innovation im Laufe der Zeit gebracht! Wie viele mehr, potentielle Teilnehmer am Diskurs, vernetzt nun das Internet? Wie hoch waren einst Hürden wie Verfügung über die Produktionsmittel Druckmaschine und Vertriebsweg; wie leicht springt heute der vernetzte Mensch darüber hinweg und mitten unter die Zeitgenossen! Mal ein bisschen gesponnen: Wie wäre es, wenn der Weltgeist ein Facebook-Profil hätte? Wo jeder Mensch, jede der Veräußerungen des Geistes „hingehen“ könnte, um seine Hinsicht einzugeben, seinen individuellen Blick – seine „Wahrheit“, um für einen Moment mal ungenau, aber populär zu sprechen. In einem Dialog, durch dessen Dynamik von Rede und Widerrede so etwas entstehen kann wie ein gesteigertes Bewusstsein. Ein in letzter Hinsicht globales Bewusstsein, in dem sich jeder als Teil einer gemeinsam handelnden Menschheit erlebt. Denn gemeinsam handeln – das tun wir, ob wir wollen oder nicht. Gemeinsam be-handeln wir diesen Planeten. Gemeinsam be-handeln wir die Natur. In jeder unserer Handlungen, von den ganz kleinen wie dem spontanen Wegwerfen einer Verpackung bis zu den ganz großen wie der Veränderung des Erbgutes von Pflanzen, Tieren und Menschen. Überlässt man diese Bereiche einigen Wenigen, so hat der Weltgeist keine Chance, weiter zu kommen. Je mehr aber an der öffentlichen Diskussion teilnehmen – je mehr die Frage diskutieren: Wie wollen wir zusammenleben, in diesem riesigen, globalen Kreis? – desto mehr Einwände können überwunden werden, desto besser kann unser Handeln werden. Wir sind in einem fundamentalen Sinne aufeinander angewiesen: Im Handeln, da jede deiner Aktionen über Kausalketten mit mir in Zusammenhang gebracht werden kann; aber auch im Denken, da du ein Konglomerat an Zugangsweisen auf den Gegenstand Welt bist, von denen ich viele nicht inne habe.

Fragt sich, welche Sprache wir dort sprechen wollen, auf dem Weltgeist-Profil. Ja, in der bevölkerungsreichsten Region der Welt wird Chinesisch gesprochen. Aber nimmt man „realistischerweise“ an, dass der Anfang der Verwirklichung eines globalen Bewusstseins von Europa und den USA ausgehen wird, wo derzeit die höchste Dichte an gebildeten Internet-Nutzern herrscht, so ist Englisch eine sinnvolle Wahl. Und auch wenn die Idee mit dem Profil auf Facebook eine metaphorische Zuspitzung ist: Warum nicht wirklich die Anbindung an bereits bestehende Institutionen des medialen Lebens? Wenn sich die grüne Revolution im totalitären Iran über Twitter organisieren kann, dann wird ja wohl in demokratischen Staaten der kritische Diskurs über Social Media Plattformen möglich sein. Facebook hat 400 Millionen Nutzer. Je größer die Anzahl der Beteiligten an Beratungsprozessen, desto wahrscheinlicher die Möglichkeit tatsächlicher Einflussnahme auf Entscheidungsträger.

Aus dem Bisherigen lassen sich auch politische Forderungen ableiten. Wenn Demokratie als beste bekannte Organisationsform eines Staates auf der Idee der Teilhabe des Bürgers am Entscheidungsprozess beruht und dieser Prozess unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts nur über global vernetzte Medien geschehen kann, lässt sich daraus ein Recht auf Zugang der möglichst größten Zahl zum Internet folgern. Was ist eigentlich aus diesem per Kurbel angetriebenen 100 Dollar-Laptop geworden, den Bill Gates vor ein paar Jahren Afrika versprach? Lasst uns das Ding produzieren, es der Welt verfügbar machen, lasst die Leute teilhaben am globalen Dialog. Und ja, natürlich, sie müssen sich bilden können, zu kritischen Individuen, damit sie in der Lage sind, Vorschläge und Einwände zu formulieren, und damit sie nicht reinfallen, auf Sophisten und Scharlatane, auf einfache Lösungen, auf falsche Versprechen.

Dass jedem einzelnen die Wichtigkeit gemeinschaftlicher Beratung über weitreichende Forschungsthesen klar werden muss, ist keine Frage. Dass ein solcher Anspruch geradezu weltfremd klingt, auch. Medien sind aber nicht neutral. Globale Vernetzheit schafft globales Denken; einmal begonnen, gewinnt der Prozess öffentlicher Diskussion nur noch mehr an Fahrt, aus sich selbst heraus. Letztendlich hat keiner die Ausrede, ein solcher Prozess sei unsinnig weil hoffnungslos – keiner, der bei Sinnen ist und nicht behauptet, die Zukunft zu kennen. Welcher Mensch vorheriger Zeiten hätte es sich träumen lassen, dass wir einmal ins Weltall fliegen oder Technologien würden entwickeln können, mit denen die Menschheit das vollbringt, was sonst den Göttern vorbehalten war: über die Grundlagen des eigenen Lebens und Sterbens als Menschengeschlecht zu verfügen? Wissen wir denn, was der Weltgeist, dieser undurchsichtige Genosse, noch mit uns vorhat? Wohin die Reise geht? Woher weißt du denn, ob nicht gerade du derjenige bist, der den entscheidenden Vorschlag oder Einwand hat, an dem das Handeln in deiner Welt, der ganz kleinen und der fast unüberschaubar großen, wächst, reift, sich schärft? Für die kleine gibt es den intimen Dialog, in Wohn- und Schlafzimmern, in Autos, Parks, Restaurants. Für die ganz große gibt es das Internet. Erschaffen haben wir es uns schon. Nur derart nutzen müssen wir es auch.

Nichts Neues unter der Sonne?

Mutter Klein ist wütend. Da hat sie einmal die ganze Familie beim Abendbrot beisammen, und was tun ihre Männer? Sie streiten. Der Sohnemann hat gerade in der Schule gelernt, dass es acht Planeten in unserem Sonnensystem gibt. Vater Klein aber will sich genau daran erinnern, dass Pluto der neunte Planet des Sonnensystems ist. Quatsch, sagt der Sohn. Die Mutter greift zu ihrem Laptop. Kurz bei Wikipedia gecheckt, ergibt sich: Pluto ist kein Planet. Zur Schulzeit des Vaters jedoch, so lernt die Familie, galt Pluto noch als neunter Planet des Sonnensystems. Eine Versammlung von Astronomen hatte vor ein paar Jahren einfach die Definition eines Planeten geändert. Nach der neuen Definition brauchte Pluto zu lange für seine Sonnenumkreisung. Na sieh mal an, sagt Vater Klein verblüfft. Du hast ja auch Recht, erwidert der Sohn versöhnlich. Pluto sei auch ein Planet, nur halt ein Zwergplanet. Der Familienfrieden ist gerettet, Mutter Klein zufrieden. Danke Internet, denkt sie. Ihr alter Brockhaus hätte die Antwort nicht gewusst. Was aber, wenn mehr an einer Frage hängt als der Haussegen bei Familie Klein?

Das Internet ist nicht nur Kontaktbörse und Schnittstelle für Medien aller Art, es ist vor allem das größte Lexikon der Welt, eine Art objektives Gedächtnis. Vor allem die Online-Enzyklopädie Wikipedia zieht wissbegierige Internet-Nutzer wie Familie Klein an. Seit gerade einmal einem Jahrzehnt gibt es Wikipedia und es existieren bereits mehr als 21 Millionen Artikel in rund 260 Sprachen. Dieses explosionsartige Wachstum wird nur noch übertroffen von der Popularität der Seite: Wikipedia rangiert auf Platz sieben der meistbesuchten Webseiten weltweit. Wohlgemerkt, ein Lexikon, kein Videoportal. Manch einem Enzyklopädisten der französischen Aufklärung hätte im Bewusstsein dieser Entwicklungen wohl ein seliges Lächeln auf den Lippen gelegen. Tatsächlich verbindet Wikipedia und die Gelehrtenrepublik des 18. Jahrhunderts ein verwandter Geist. Der Nährboden, auf dem das Projekt wächst, ist ein grundsätzlicher Idealismus, der Glaube an die menschliche Fähigkeit zur Objektivität.

Gegründet am Ende des letzten Jahrtausends, ist Wikipedia das Kind von Jimmy Wales, einem Fantasy-Rollenspieler mit BWL-Abschluss. Wales ist Anhänger der in Europa eher unbeachteten amerikanischen Schriftstellerin Ayn Rand, deren Objektivismus auf der aristotelischen Definition des Menschen als vernünftigem Lebewesen basiert. In der Wikipedia-Welt findet dieser Grundsatz seine Formulierung in Wales Grundsatz „Sag mir nicht, wie ich zu denken habe, erzähl mir nicht nur eine Seite der Geschichte; gib mir Fakten und ich werde selber darüber entscheiden.“ Gemäß dieser Politik der neutralen Perspektive werden Autoren der Lexikon-Artikel angewiesen, akzeptierte Sachverhalte ohne Vorurteile darzustellen und im Falle von Streitfragen beiden Streitparteien gleichviel Platz einzuräumen. Der Grund für Wikipedias rasanten Wachstum ist jedoch, dass die Macher der Seite zwar solche Regeln festlegen – nicht aber, wer für sie schreiben darf. Das Online-Lexikon bietet damit ein Gegenmodell zum klassischen Experten. Bei Wikipedia ist Expertise nicht mehr in einer Person verkörpert, sondern in der Gesamtzahl der Nutzer als Wissens-Kollektiv. Der Gedanke passt bei einem globalen Netzwerk wie dem Internet. Wikipedia nutzt klug die enorme Vernetzung des World Wide Web, um aufzubauen, was Wales als „Summe des menschlichen Wissens“ bezeichnet.

Im Rückblick scheint diese Entwicklung angesichts der Beteiligungsmöglichkeiten des Internets fast unausweichlich. Um die Jahrtausendwende jedoch, als Unternehmen wie Google und Wikipedia noch in den Kinderschuhen steckten, war nicht abzusehen, wie sich das Internet entwickeln würde. Anfangs noch überschaubar, wuchs das Netz schon bald rasant an. Zwei konkurrierende Modelle, wie man da für Orientierung sorgen könnte, standen sich damals gegenüber. Der Branchenprimus Yahoo setzte darauf, ein Heer an Experten dafür zu bezahlen, das Internet zu katalogisieren. Bei Google und Wikipedia dagegen glaubte man an die Eigendynamik großer Gruppen von Individuen, die, geleitet von ihrem gesunden Eigeninteresse, gemeinsam mehr zustande bringen könnten als allein. Dies war Ayn Rands Philosophie des Egoismus, übertragen auf die digitale Welt. Als Wales dann von den Wikis, einer Innovation des Hackers Ward Cunningham, Wind bekam, waren die Grundsteine für Wikipedia gelegt. Cunninghams Wiki-Prinzip beruht auf der demokratischen Teilhabe aller am Aufbau einer Seite. Nutzer können eine neue Seite erstellen und verändern – gleichzeitig und parallel. Aus dem Chaos vieler kleiner Änderungen, so der Gedanke, soll dann Ordnung entstehen, Wissen, Wahrheit. Für ein Lexikon bedeutet das: Die Überprüfung einer Information durch ausgewiesene Sachverständige wird ersetzt durch eine größere Anzahl Interessierter. Das ist der Zaubertrick, auf dem scheinbar das ganze World Wide Web basiert. Auch hinter Googles Algorithmen steckt eine ähnliche Idee: Suchergebnisse werden dort nach dem Prinzip ausgegeben, dass diejenige Seite als relevantestes Suchergebnis erscheint, welche die meisten Verlinkungen von ihrerseits relevanten Seiten vorweisen kann. Bei Google soll also ebenfalls Quantität Qualität garantieren. Etwas ist relevant, so die Denkweise, weil es am meisten verlinkt wurde. Nicht: Etwas wurde am meisten verlinkt, weil es relevant ist. Ungeachtet der Frage, ob hier Relevanz mit Beliebtheit verwechselt wird, lässt sich heute, ein Jahrzehnt nach diesen Weichenstellungen, konstatieren: Der Ansatz von Wikipedia und Google gewinnt den Tag; Yahoo ist quasi tot.

In einem Wikipedia-Artikel findet sich also eine Darstellung des Diskussionstandes zu einem Thema. Der anonyme Autor sagt implizit: Das wissen wir über eine Sache! Ein kritischer Geist mag da, nach erster Zustimmung, vielleicht nachfragen: Wer stellt denn die Informationen zusammen, und mit welchen Intentionen? Tatsächlich gibt es schon einige handfeste Hinweise auf Manipulationen in der relativ kurzen Geschichte der Enzyklopädie. Missbrauch nimmt dabei selten die Form tatsächlicher Falschinformation an. Oft zeigt er sich eher in dem, was in Artikeln über Unternehmen und deren Produkte nicht zu finden ist. Prominent geworden ist der Fall des Wahlmaschinenherstellers Diebold, den das US-Magazin Wired aufdeckte. Ein anonymer Autor hatte in dem Wikipedia-Artikel über Diebold ganze Absätze über Zweifel an der Verlässlichkeit der Maschinen gelöscht. Dummerweise konnte die Aktion auf einen Rechner zurückverfolgt werden, der in der Diebold-Hauptzentrale in Ohio stand.

Nichtsdestotrotz beschreibt Wales seine Erfahrung mit dem Vertrauen, das er in die Wiki-Gemeinschaft setzt, als gut. Die Qualität einer Mehrzahl der Artikel gibt ihm Recht. Wie das Wissenschaftsmagazin Nature herausfand, ist die Online-Enzyklopädie in Sachen Genauigkeit durchaus vergleichbar mit einem allseits anerkannten Lexikon wie der Encyclopedia Britannica. Das liegt aber auch daran, dass sich gerade die Wissenschaftsseiten bei Wikipedia nach den Standards der Buchbranche richten. Artikel über wissenschaftliche Sachfragen werden von anerkannten Spezialisten verfasst oder schlicht aus Fachbüchern abgeschrieben. Nicht die egalitären Prinzipien der Wiki-Welt sind es also, die in den meisten Fällen die Qualität eines Eintrags garantieren, sondern die Kriterien der traditionellen Wissenskultur. Bei genauem Hinsehen entpuppt sich das neue Modell als weniger revolutionär als es die Selbstbeschreibungen der Wiki-Pioniere vermuten lassen. Es gibt nichts Neues unter der Sonne, auch unter der kalifornischen nicht.

Bei aller Begeisterung für die Möglichkeit, in einem offenen Prozess vorhandene Informationen zu einem Thema zu sammeln, um an so etwas wie Wahrheit heranzukommen – die Frage, was Sachverstand ausmache, bleibt zentral. Schon Platon wusste: Die Vielen können sich irren. Der griechische Philosoph sah deutlich die Gefahren, die davon ausgingen, Wahrheit als Konsens der möglichst größten Zahl zu verstehen. Die Sophisten seiner Zeit standen auf den Marktplätzen und verstanden es, mit rhetorischen Tricks die Massen ihren Machtinteressen gemäß zu steuern. Auf dem virtuellen Marktplatz unserer Zeit gelten die gleichen Regeln. Es ist kein Zufall, dass der Wiki-Gedanke einem unter Hackern als „Basar-Modell“ bezeichneten Programmierprinzip entstammt.

Wenn ein Wikipedia-Eintrag die Familienharmonie retten kann, ist das natürlich wunderbar. Ihren neuen Staubsauger aber wird wohl auch Frau Klein eher auf Kaufempfehlung der Stiftung Warentest kaufen, oder nach persönlichem Antesten. Ebenso liegt für auch andere Nutzer die Aufgabe darin, die nötige Kompetenz im Umgang mit open source-Lexika zu entwickeln. Gerade Journalisten sollten die Online-Enzyklopädie nur im Bewusstsein des Entstehungsprozesses ihrer Artikel nutzen. Wikipedia, so die nicht allzu neue Erkenntnis, kann gewissenhafte Recherche nicht ersetzen.

(Eine Version dieses Artikels ist erschienen in textintern 12/2010. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.)

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