Wer derzeit den Fernseher einschaltet, hört eigentlich nur Wirtschaftsnachrichten. Krise der Euro-Zone, Diskussion um Erhöhung der amerikanischen Schuldendecke. Und auch wenn die Straßen Athens oder Polizeiautos in Downtown Vancouver brennen, sind die wahren Brandstifter weder griechische Gewerkschafter noch Hockeyfans im Vollrausch. Der Frust Einzelner passt in eine Zeit gefühlter Rat- und Hilflosigkeit angesichts scheinbar fehlender Alternativen zum Monopoly der Bosse.
Begonnen hat das 2008, dem Anfang der so genannten Subprime Mortgage-Krise. Als der Traum einer Gesellschaft, in der die Eckpfeiler des Lebens – Ausbildung, Haus, Familie – auf Pump finanziert werden sollten, sich zum Albtraum auswuchs. Im Grunde wachen wir noch immer daraus auf, langsam jedoch. Unsere Zeit wirkt manchmal wie einer dieser Albträume, die nicht enden wollen – jedes Aufwachen nur ein weiteres, höheres Stockwerk im großen Haus des kollektiven Materialismus.
Als damals, im September des Jahres 2008, die Nachricht vom Kollaps der Investmentbank Lehman Brothers über die Fernsehschirme zu flimmern begann und der Goliath USA anfing zu wanken, war ich in Chicago – unterwegs auf den Schienen Amerikas, in einem 3500-Meilen Trip von der Ost- bis zur Westküste. „Von allen Orten gelöst, um im Denken anzukommen,“ sollte ich später über meine Motivation für diese Bahnreise schreiben. Aber das war schon Monate nach den langen Tagen auf Amtraks Zügen und bereits Teil der unausweichlichen Narrativisierung des eigenen Lebens. Im Grunde wollte ich damals, im Spätsommer, nur schnell zu den Freunden nach San Francisco.
Die Reise im California Zephyr aber, diesem Silberpfeil mit seinen dreizehn Stahlwaggons, war dann ereignisreicher als gedacht. Nach und nach begann sich mein Notizbuch mit Geschichten zu füllen. Ich stritt mit einem Einwanderungsoffizier und teilte mit einer Britin mein Faible für Bahnreisen. Ich erfuhr bei einer Flasche Whiskey von der Tierliebe eines Hirnforschers, hörte die Erweckungsgeschichte einer schwarzen Predigerin und beobachtete die Verhaftung zweier Immigrantinnen aus Ghana. Ich strandete in Chicago und begegnete Obdachlosen und Hip Hop-Musikern, sah auf dem Weg westwärts Flutkatastrophen, Tent-Cities und Graffitis dreitausend Meter über dem Meeresspiegel.
Durch all diese Episoden – auch dies eine Erkenntnis ex post facto, am Schreibtisch entworfen – schien das Wesen Amerikas hindurch. Jede einzelne der Geschichten verkörperte einen Aspekt dieses vielgestaltigen Landes. Und erst wer Bild an Bild knüpfte – „in der Zusammenschau all dieser verschiedenen Winkel zu einem kubistischen Gemälde, einem amerikanischen Picasso deines Geistes“ – erhielt eine Idee dessen, was Amerika sein konnte.
Was dann am Ende der Reise blieb, Leitfaden auch für künftige Wagnisse, war die Erkenntnis, dass man hinein muss in ein Land, um es begreifen zu können. Und das nicht nur in einem geographischen Sinne. Denn echtes Verstehen, so das Fazit von Hello Stranger, meiner Reiseerzählung in 18 Kapiteln, ist nur in der Teilnahme möglich: „Das war das Missverständnis: Das reine Denken könne zum Erfassen der Welt anleiten. Im reinen Denken aber hast du sie schon verloren. Das reine Denken ist nichts als Weltlosigkeit.“
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2011 war ich wieder in Nordamerika, wenn auch in einem anderen Land, diesmal in Kanada, unterwegs mit einem Working Holiday-Visum – der günstigsten Eintrittskarte in die neue Welt – und dem unbändigen Wunsch, als freier Autor zu reüssieren. Dort, in Vancouver, unter Hippies und Hockeyfans, fand ich endlich mal Zeit, diesen Text aufzunehmen.
Die eigentliche Aufnahme jedoch, in meinem kleinen Zimmer in East Vancouver – vorübergehend ausgelegt mit Bettdecken, um die Echos zu dämpfen – war nur eine Hälfte der sprichwörtlichen Medaille. Denn dann kam die Nachbearbeitung. Jeder Versprecher, jeder zu kraftvoll per Fußtritt untermalte Satz, jeder zu schwungvoll herausgeschleuderte Vokal musste mühsam herausgeschnitten werden. Mikrophone sind da gnadenlos ehrliche Zeugen. Und literarische Texte nicht unbedingt die besten Manuskripte für Hörbücher.
Denn was sich noch ganz flüssig liest, der dritte Nebensatz mit kunstvoll aneinander gereihten Alliterationen zum Beispiel, will dem Sprecher unter Umständen nicht ganz so leicht über die Lippen kommen. Was diese Erfahrung, den eigenen Text zu lesen, und sich über Stunden dabei zuzuhören, mit der eigenen Schreibe macht, kann ich jetzt noch gar nicht absehen. Dass es eine jedem Autor zu empfehlende Übung ist, steht außer Frage. Witzig ist es noch dazu. Und fast schizophren, mit sich selbst über die eigenen Versprecher zu lachen, auch.
Dass die Zeit bei der alten Logopädin mit Damenbart, deren Gardinen gelb von Zigarettenrauch gewesen waren und in deren Praxis es nach Kohl gerochen hatte, wohl investiert gewesen war, auch wenn ich sie damals, als Kind im Grundschulalter, lieber auf dem Spielplatz verbracht hätte, war jedoch nicht die einzige Erkenntnis dieser vielen Stunden vor dem Bildschirm. Denn auch wenn ich als Kind mit Hilfe der griechischen Therapeutin meine Sprachfehler in den Griff bekommen habe – eine wirkliche Sprecherausbildung fehlt mir. Manch eine Endsilbe wurde da beim Lesen von Hello Stranger verschluckt, verlor sich im provisorisch ausstaffierten Zimmer. Vielleicht aber liegt darin auch eine gewisse Authentizität. Denn so klingt das eben, wenn ich meine Texte lese. Unter Rappern heißt das Flow, so eine charakteristische Aussprache.
Auch, dass ein echtes Studio geholfen hätte, steht außer Frage. Aber welchem Aufnahmeleiter ist schon zuzumuten, stundenlang den gleichen Text anzuhören. Zumal in Deutsch, einer Sprache, die manch einen Kanadier an die gebellten Befehle eines Nazi-Offiziers in amerikanischen B-Movies erinnert. Ein Pop-Schutz vor der Mikrophonmembran schließlich, als Schutz vor sogenannten plosiven Konsonanten – für Nicht-Linguisten: das sind all die Ps und Ts, die gerne mal eine Aufnahme ruinieren wie Fehlzündungen die Ruhe einer Nacht – hätte die Zeit der Nachbearbeitung erheblich reduziert. Unter Umständen wären einem dann aber auch all diese Einsichten nicht so deutlich ins Bewusstsein gedrungen.
Letztendlich ist das fertige Resultat der Beweis, dass man das alles autonom und zum Nulltarif machen kann… with a little help from my friends. Und so ist dem französischen Mitbewohner zu danken, dass er seinen Mobilrecorder für ein paar Tage entbehren konnte, und dem kanadischen Vermieter, dass er sein Aufnahmestudio zum Mischen der Mitschnitte und für das Einspielen kurzer Gitarrenpassagen zur Verfügung stellte. Wichtig war auch die Unternehmungslust meiner Mitbewohner. Denn erst die Outdoor-Aktivitäten der Bewohner des Hauses in Vancouver, in dem ich ein Jahr lang gelebt habe, sorgten dafür, dass ich ein Wochenende lang Ruhe hatte, nunmehr drei Jahre alte Gedanken und Erlebnisse aufzunehmen. Und sorgten damit auch dafür, dass diese nun im Internet zu finden sind, als einzelne Kapitel im Web-Stream oder als gesamtes Hörbuch zum Download.