Der Ausgang des 18. Jahrhunderts war eine Zeit des moralischen wie politischen Fortschritts. Die gewaltsamen Revolutionen der neuen und alten Welt lagen nur ein paar Jahre zurück. Einstige Revolutionäre waren zu Politikern geworden, die nun den Alltag im Frieden zu organisieren hatten. Langsam floss der Freiheitsgeist ihrer Umstürze in die Gesetzesbücher. Schon 1776 hatte eine Gruppe von Juristen und Soldaten in Philadelphia erklärt, jeder Person stünden aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Gattung der Menschen gewisse unveräußerliche Rechte zu. 1789 dann stürmten aufgebrachte französische Bürger für ähnlich aufklärerische Gedanken die Pariser Bastille – ein Sturmlauf, der den Monarchen von seinem Thron stürzen sollte. Und irgendwann Anfang der neunziger Jahre dieses bewegten 18. Jahrhunderts saß der Philosoph Immanuel Kant im Wirtshaus „Zum ewigen Frieden“ und entwarf in einer gleichnamigen Schrift die Idee des Weltbürgerrechts.
Kant war ein glühender Bewunderer der Kämpfe der französischen Bourgeoisie. Als vorausschauender Denker fragte er sich jedoch, wie nach dem Ende der Aufstände der neu gewonnene Frieden zu sichern sei. Nur ein Bund aller Völker, überlegte der Königsberger Philosoph, wäre dazu in der Lage – keine Weltrepublik, vielmehr ein freiwilliger Zusammenschluss von Nationalstaaten auf Grundlage praktischer Vernunft. Kant war nicht daran gelegen, die Souveränität dieser Staaten anzutasten. Sein Ausgangspunkt war ein Gedankenexperiment. Angenommen, so Kant, es gebe einen Streitfall zwischen verschiedenen Staaten. Wie würde ein Gremium aller Völker, das für die Einhaltung der moralischen Menschenrechte verantwortlich ist, den Konflikt entscheiden? Die Ergebnisse einer solchen hypothetischen Urteilsfindung wären nach Kant ein Maßstab – für die moralische Güte der von individuellen Staaten gefundenen Lösungen. Letztlich aber auch für die Frage, ob ein Staat zu verurteilen sei, der gegen das Weltbürgerrecht verstoßen habe.
Heute, mehr als zweihundert Jahre später, haben wir erste institutionelle Schritte auf dem Weg zur tatsächlichen Durchführung der Kantischen Ideen bereits getan. Die Vereinten Nationen lassen erahnen, wie ein Völkerbund aussehen könnte. Jeffersons Worte und die Parolen der französischen Revolutionäre finden ferne Echos in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948. Und seit Beginn des neuen Jahrtausends verfolgt der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag die schlimmsten Verstöße gegen das Völkerrecht. An den Schwierigkeiten von internationaler Exekutive und Gerichtsbarkeit, solche Vergehen zu ahnden, zeigt sich jedoch ein fundamentaler Unterschied zwischen juridischen Rechten und Menschenrechten. Bricht jemand deutsches Recht, wird er von deutschen Gerichten verurteilt. Verstößt jedoch jemand gegen die Menschenrechte, ist nicht so klar festgelegt, wie und von wem dies zu ahnden ist. Ähneln die Menschenrechte also einem zahnlosen Tiger – imposant, doch letztendlich harmlos?
Manche behaupten, universelle Menschenrechte existierten nur als frommer Wunsch in den Köpfen unverbesserlicher Träumer. Im Miteinander der Völker dagegen, so die populäre Meinung, spielten sie keine Rolle. Der Fall des US-Gefangenenlagers Guantanamo jedoch, oft ein Beispiel für die Missachtung universeller Menschenrechte, kann so gelesen werden, dass an ihm die Wirkungsmacht der Menschenrechte deutlich wird. Denn nichts anderes als der wiederholte Hinweis auf die Diskrepanz zwischen den Erfordernissen der Menschenrechte und der Behandlung der Inhaftierten in Guantanamo veranlasste Bemühungen der Regierung Obama, das Lager zu schließen. Im Grunde aber ließen schon die Rechtfertigungsversuche des amerikanischen Militärs bei Verstößen gegen basale Menschenrechte auf deren de facto Realität schließen. Die Inhaftierten in Guantanamo, so das Argument, seien eben feindliche Kämpfer. Aufgrund dieses anderen Personenstatus kämen ihnen gewisse generelle Rechte schlicht nicht zu. Wer jedoch, wie in diesem Fall das US-Militär, zu legitimieren versucht, warum einer Person gewisse Rechte abzusprechen seien, gesteht zunächst einmal implizit ein, dass diese Rechte überhaupt existieren. Diese Grundannahme ist jeder Begründung für oder gegen die Anerkennung eines bestimmten subjektiven Rechts logisch vorgeordnet.
Die Realität der Menschenrechte ist also kaum anzuzweifeln – eine Realität jedoch, die der ständigen Pflege bedarf, gerade weil starke Institutionen fehlen, die für ihren Erhalt sorgen. Sie ist eine utopische Realität, die ihrer eigenen Umsetzung vorausgeht – solange als Utopie wichtig, wie die Menschenrechte noch nicht im geltenden Recht der einzelnen Nationalstaaten aufgegangen sind. Aber dies ist eine Pflege, die nicht allein den Institutionen überlassen werden kann. Gerade die Kunst mit ihrer Suggestivkraft ist in besonderer Weise dazu geeignet, die Idee der Menschenrechte ins Bewusstsein der Menschen zu heben. Auch ein zahnloser Tiger kann Ehrfurcht erwecken, Bewunderung. Dazu bedarf es jedoch einer Darstellung, die Ehrfurcht und Bewunderung einflößt. Und an einer solchen Repräsentation malen die hier versammelten Künstlerinnen gemeinsam. Da werden Szenarien heraufbeschworen, Lösungen durchgespielt, Fragen aufgeworfen. Elsa Klever, Clara De Villiers, Lena Personn, Katinka Reinke und Andrea Tomzcak deuten auf die Unrechtszustände unserer Welt mit Bildern aus einer anderen Welt – spielerisch, oft traumartig, manchmal alptraumartig. In ihren Illustrationen werden Machtverhältnisse allegorisiert, Gefühle erfahrbar, Argumente konkret. So erscheint in den Bildern dieser fünf Künstlerinnen ein anderer Tiger – vielleicht zahnlos, doch prächtig; vielleicht zahm, aber mächtig. Einer, der es nicht nötig hat, die Pranke zu heben, weil schon die Würde, mit der er vorbei stolziert, überzeugt.
(Dieser Text erschien erstmals als Vorwort des Sonderdrucks “Menschenrechte” der Hamburger Hochschule für angewandte Wissenschaften – Armgartstraße)
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