Writer, Teacher, Musician

Ein Seitenblick

Die Wangen von Ingeborg Bremer, unserer Institutssekretärin, schimmern rötlich durch eine dicke Schicht Make-up. Sie fährt flüchtig über ihre aufgetürmten Haare und flötet:

– Ja, ganz recht! Aber dass sie das bemerkt haben, Rudolf…

Frau Bremer geht pünktlich zum Monatsanfang zum Friseur, und ebenso pünktlich am Tag darauf erwähne ich beiläufig meine Überraschung ob ihrer hochtoupierten Haare: Inge, waren Sie etwa kürzlich bei einem Coiffeur? Heute aber muss ich unser Spiel jäh unterbrechen:

– Haben Sie Lina gesehen?

Der Teint der Sekretärin wird wieder teigig. Sie wendet sich ihrem Schreibtisch zu und tut das, was Sekretärinnen tun: die Hämmerchen ihrer Schreibmaschine gegen ein Farbband knallen, ungerührt kalten Kaffee trinken, Auskünfte erteilen:

Fräulein de Winter ist vor ungefähr zehn Minuten in den Hof gegangen.

Freitagnachmittags finden kaum noch Seminare statt und so ist das Treppenhaus leer. Die Tür zum Hinterhof ist aus schwerem Holz. Ich drücke sie auf und gehe hinaus.

Das war eine ausgemachte Sache: Wenn der erste Kongress gut läuft, machen wir noch einen. Zusammen. Wie buchstabiert man „Erfolg“? Vollbesetzte Vorlesungssäle, Redner aus dem Ausland, eine gute Presse? Lina hatte sogar einen Teil ihrer Dissertation vortragen können: „Die Dinghaftigkeit des Leiblichen bei Simone de Beauvoir.“ Abstrakte Satzkaskaden hin oder her – die Leute hatten ihr an den Lippen gehangen, dieser kleinen Frau mit kurzen Haaren, Jeans und Strickpulli. Und jetzt, eine Woche vor Existentialismus II, geht sie nach Afrika? Lässt mich hier allein? Dr. phil im Busch?

Der Hof sieht verlassen aus. Nur ein paar Amseln hüpfen über den Rasen. Ich gehe quer über die Grünfläche zur anderen Seite, zum Blumengarten, und die Vögel fliegen zwitschernd hinauf, hinaus aus dem eingefassten Rechteck, zum Dach der Uni.

Dass sie mit mehr als einer Stimme spricht, habe ich ja gewusst. In größeren Runden, nach ein paar Flaschen Wein, gibt es kaum jemanden, der witziger, geistreicher ist. Aber widersetz dich ihrem Charme, und rat mal, auf wessen Kosten der Witz dann geht. Ja, rat mal, Rudolf Droschke!

Der Rasen geht über in Kies und meine Schritte beginnen zu knirschen. An der Einbuchtung zum Garten ist da plötzlich eine merkwürdige Melodie, leise, ein Flüstern oder Summen. Ich spähe hinter der Gartenmauer hervor und da steht sie, an einem Beet, Lina, und redet vor sich hin. Sie beugt sich hinunter und streicht über die Blüten der Pflanzen, fährt ihre Stengel ab, und es wird mir klar, dass sie keine Selbstgespräche führt.

Nein, Lina redet nicht zu sich.

Es ist komisch, hier zu stehen und ihr dabei zuzusehen, irgendwie, und ich komme hinter der Mauer hervor. Mit meinem ersten vernehmbaren Schritt im Kies versteift sich ihr Körper. Sie wirbelt herum, ihr Gesicht das eines ertappten Mädchens, und dann weicht Linas Verblüffung einem Lächeln, das mich hineinzieht in ihre Welt. Plötzlich weiß ich, dass ich nichts mehr von dem, was ich ihr vorwerfen wollte, sagen werde; nicht nach diesem Moment, diesem Seitenblick.

Und dann nimmt die Metamorphose ihren Lauf und verkehrt Linas Lächeln wieder in die unbekümmerte Miene der jungen Philosophin. Eine ihrer Augenbrauen hebt sich und sie fragt:

– Hey Rudi, alles klar?

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1 Comment

  1. GustV

    Und? Ist alles klar mit Rudi?

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