Dass dieses Video nun zu sehen ist, ja, dass es überhaupt existiert, verdankt sich einem unfreiwilligen Zahnarztbesuch. Und dem Internet. Beziehungsweise einer Kiez-Spielhalle – scheinbar dem einzigen Ort auf der gesamten Reeperbahn, an dem eine drahtlose Verbindung zum World Wide Web zu finden war. Aber der Reihe nach.

Menschen tun ja bekanntlich dumme Dinge unter Stress. Und so war es wohl auch kein Wunder, dass Songwriter und Sänger P. einen folgenschweren Fehler beging, als Filmemacher K. ihn am Montagnachmittag zuhause abholte. Ein Musikvideo für P.s neues Lied sollte gedreht werden, im Schnellverfahren, mit einer kleinen Kamera, die Musik vom MP3 Player – Guerilla-Style, ohne Drehgenehmigung, rein, drehen, raus. Anvisierter Ort: der alte Elbtunnel. Klar, ein Musikvideo-Klischee, aber auch der Song erfindet ja die Stromgitarre nicht gerade neu, und so schien das zu passen. Ideen – Dramaturgie, Stil, Schnittfolgen – wurden erstmal verschoben. K.s Philosophie: mal gucken, vor Ort schauen, improvisieren. Den Ort auf sich wirken lassen.

Eines war allerdings klar: Irgendwie muss Sänger P. ja runter in diesen grellen Tunnel. Dass die holzverkleideten Fahrstühle für Kraftfahrzeuge mehr Augenfutter sind als die modernen Personenaufzüge war auch keine Frage. Aus der Information, dass diese Lastenaufzüge nur bis abends um acht betrieben werden, ergab sich jedoch ein Stresspotential, das bei Ankunft von K. in P.s Wohnung einen ersten Höhepunkt erreichte. „Mach mal hinne, die warten auch nicht auf uns.“

Es ist fast sieben, der Feierabendverkehr liegt da wie das Labyrinth des Minotaurus, und der MP3 Player streikt. Ist einfach eingefroren, noch verkabelt mit P.s Laptop, kurz nach der Übertragung des Musikstücks. P. würde jetzt gern die kleine Schwester verfluchen, wenn die ihm das Gerät nicht quasi geschenkt hätte und im Übrigen sowieso ganz reizend ist. Einfache Schuldzuweisungen gehen also nicht. So entlädt sich die Aggressivität in hektischem Betätigen verschiedener Tasten auf dem eingeschlafenen Gerät. Irgendwann regt sich was. P., glücklich, auf dem Sprung, bestätigt die nur flüchtig gelesene Frage. Irgendwas mit Löschen. Egal, Hauptsache das Ding spricht wieder mit einem. Und los!

Wäre diese Heldengeschichte ein Film, würde jetzt ein Cut kommen, um nach einer Raffung von fast einer Stunde direkt in den Tunnel zu schneiden. Wo sie stehen, K. und P. und Assistent Zwei-K., und den Shoot beginnen wollen. Aufnahmen vom Aufzug haben sie gekriegt, kurz vor Arbeitsschluss der gelangweilten Beamten, die das kleine Filmteam wohl als willkommene Abwechslung gesehen haben werden. Jetzt die Bilder den langen Tunnel hinunter. P. holt den MP3 Player hervor. Doch auf dem Gerät befindet sich keine einzige Datei. Nichts. In den Referenzbereich dieses Nichts fällt dabei auch der neue Song. P. ist erbost, verflucht die eigene Dummheit, erinnert sich an die Frage auf dem Display: Für Löschen bitte hier drücken. Ok, zwar wird dadurch nicht klar, was da gelöscht werden sollte. Aber das L-Wort sollte bei Menschen des digitalen Zeitalters doch eher Stressflecken als unbekümmerte Bestätigung auslösen – das weiß nun auch P., der nach überwundenem Schockmoment schon auf dem Weg zum Kiez ist. Zum Glück gibt es „Inside a dream“ ja runterzuladen. Und in frischer Erinnerung an die WLAN-Dichte auf San Franciscos Valencia Street oder am Times Square meint P. jetzt auch auf der Reeperbahn ohne Probleme ein Café mit offenem Netzwerk finden zu können. Sogar einen Kaffee oder ein Bier wäre er bereit zu kaufen.

Aber die Cafés auf dem Kiez verpassen dieses gönnerhafte Angebot. Ebenso die Restaurants. Und die Hotels. Die Frage nach WLAN zaubert nur verständnislose Blicke auf Kellner- und Hotelier-Gesichter. Eine Spielhalle ist es schließlich, wo P. sich dann doch noch einloggen kann. Es ist dunkel dort, riecht nach angetrockneten Alkohollachen, und das Publikum zwielichtig zu nennen wäre zwar ein Klischee, aber dennoch ganz zutreffend. Die Internetverbindung jedoch ist schnell. Der Balken, der den Fortschritt des Datentransfers darstellt, jagt von der einen Bildschirmseite zur anderen. Und fast ebenso schnell sind P. und K. wieder bei Zwei-K., der geduldig in die Röhre geguckt hat, im intensiven Zwiegespräch mit einer Dose Holsten. Kaum ist der MP3 Player mit dem heruntergeladenen Stück ausgepackt, der Song ein paar Male angespielt, die nächste Überraschung: Das Ding ist wieder eingefroren. Schockgefroren wie P.s Gesicht bei dieser neuen Entwicklung. Einmal entspannt es sich kurz, als P. einen Reset-Knopf an der Unterseite des launischen Geräts bemerkt. Doch die Haarnadeln, die sich K. von zwei Frauen leiht, wollen nicht in das Loch passen, das den Knopf verbirgt.

Die Rettung sind Zahnschmerzen. Wegen solcher nämlich war Filmemacher K. noch vor kurzem beim Arzt gewesen. Und hatte nach überstandener Tortur einen Zahnstocher mitgenommen. Es leben Cowboy-Klischees. Denn dieser Zahnstocher ist es, der nun, als sei er nie für etwas anderes geschaffen worden, in das kleine Reset-Loch passt, zum Jubel der Beteiligten.

Der Rest des Drehs dann: plain sailing. For real. Nichts kann sie jetzt noch aus der Fassung bringen, K. und P. und Zwei-K. Nicht die betrunkenen Arbeiter vom Hafen, die unbedingt gefilmt werden wollen und Gefallen an P.s Gitarre finden. Nicht die lärmenden Kinder in Bayern-München-Trikots. Erst recht nicht das Auftauchen eines zweiten Filmteams im Tunnel. Mit großem Equipment kommen die an. Dolly, Riesenkamera. Große Crew. Brauchen wir nicht, denken P. und K. Wir brauchen nur drei Mann, die Canon 5D MKII und einen MP3 Player. Und das Internet. Ok, ja, und einen Zahnstocher.