Man fahre an einem beliebigen Spätsommertag über den Icefields Parkway, einer zweihundert Kilometer langen Autostraße in den kanadischen Rocky Mountains, und halte an einem der vielen Parkplätze entlang des Highway. Die Luft schmeckt frisch hier, auf zweitausend Metern. Im Schnee der Gipfel spiegelt sich die Nachmittagssonne und zwingt auch denjenigen, der noch nicht von der Weite der Täler und der Höhe der Bergriesen wie geblendet ist, die Augen zu schließen. Für einen Moment ist nur der Wind zu hören, leise, in den Wipfeln der Wälder.

Bis dann, noch ehe man die Augen wieder öffnet, etwas Anderes heran fliegt – ein Rumoren von Klimaanlagen, ein schweres Rollen auf Geröll. Man kann sie erahnen, bevor man sie sieht: Busse voller Touristen, vornehmlich Rentner, eifrige Pilger an entlegene Plätze. Es ist eine Szene, die sich millionenfach wiederholt; überall dort, wo Touristen an historische Stätten und Naturschauplätze gefahren werden. Als Weltwunder werden sie ihnen angepriesen, als not-to-be-missed. Auch auf den Athabasca Gletscher – unweit des Parkplatzes, an dem diese Begegnung stattfindet – finden solche Vokabeln Anwendung. Und so folgt man dem Strom der Touristen, einen asphaltierten Weg entlang, hinauf zur Zunge des Gletschers.

Doch angekommen, findet man statt Erhabenheit nur Ernüchterung. Da liegt die Eiswüste, grell und groß, genau wie auf den Postern im Informationszentrum. Aber etwas fehlt – etwas, das man hier oben zu finden geglaubt hat. Die Leere steht auch den versammelten Ehepaaren ins Gesicht geschrieben. Eine untersetzte Frau in Flip-Flops watschelt durch den Schnee auf einen blanken Felsen zu und fasst es aufrichtig in Worte, dieses vage Gefühl von deja-vu: „Fast so schön wie in Disneyland, der Stein!“ Sagt’s und steigt wieder in den klimatisierten Bus, in dem ihre Flip-Flops nun nicht mehr deplatziert, sondern wohl bedacht wirken.

Was ist das für eine Welt, in der das primäre Ereignis nur auf der Folie seiner Rekonstruktion wahrgenommen wird? In der wir nie bei der Sache selbst sind, sondern stets bei den Faksimiles, den Simulacra? In der die Wirklichkeit enttäuscht, weil sie nicht mit geweckten Erwartungen konform geht? Es ist eine Welt, in der alles Produkt ist – ein Produkt, das sich nach unseren Bedürfnissen zu richten hat, und nicht umgekehrt. Wir sind enttäuscht, frustriert, wenn wir von einem Produkt nicht das bekommen, was wir erwarten. Also gehen wir weiter, in unserem Kaufverhalten sowieso – ist die Möglichkeit der alternativen Wahl nicht die conditio sine qua non des Kapitalismus? – aber auch in Freundschaften, Beziehungen. Wir konsumieren unsere soziale Welt wie einen Sonntagabendfilm. Langweilig? – zap! Langweilig? – unfriend! Das ist die Facebook-Welt – und sie leidet unter einem massiven Mangel an dem, was man in der Entwicklungspsychologie „Frustrationstoleranz“ nennt.

Ein schrecklich moralistischer Ton schleicht sich in diese Betrachtungen. Große Umwälzungen finden nun einmal statt, möchte man sagen, und Facebook ist nicht mehr als ein Symptom, ein Ausdruck veränderter Sozialstrukturen. Was ist daran auch schon so falsch? Soll man seine Zeit in diesem einzigen Leben mit Dingen und Menschen verbringen, die man im Innersten ablehnt? Der Fortschritt macht es möglich, sich nicht mit dem status quo abfinden zu müssen. Jeder kennt das – dieses Gefühl, verdammt dankbar für die Errungenschaften der Moderne zu sein, für ihre Rechte und Chancen, ihre Technologie, ihren Individualismus. Warum auch sollte die Welt nicht optimierbar sein? Jahrtausende alte Fragen scheinen auf, ein Zwist zwischen Intervention und Meditation, zwischen Christentum und Buddhismus – Fragen, die alles andere als beantwortet sind.

Eine logische Fortentwicklung unseres Drangs nach Verbesserung des Gegebenen ist die Verschmelzung von CGI-Technologien mit dem menschlichen Wahrnehmungsapparat. Nichts anderes geschieht in der AR-Bewegung. AR steht für „Augmented Reality,“ was ungefähr so viel heißt wie „erweiterte Wirklichkeit.“ Da wird an Brillen und Kontaktlinsen gearbeitet, die sämtliche verfügbaren Informationen über Orte sammeln und visuell wahrnehmbar machen. Schon heute kommen Benutzer der einschlägigen Mobiltelefone in den Genuss, ihre Welt derart erweitern zu können. Der Mensch, der durch die Straßen einer fremden Stadt geht, bei einem Blick eine Straße hinunter in seinem Gesichtsfeld Restaurants, Shops und sogar die Orte erst kürzlich geschehener Verbrechen angezeigt bekommt, ist daher keine allzu ferne Zukunftsvision. Nur wessen beraubt er sich dabei, dieser Hyperinformierte in seiner optimierten Realität?

Eine Ahnung vom Preis, den er zahlt, lässt sich auf einem Berghang in den kanadischen Rockies finden, auf der anderen Seite des Gletschertales, über einen dicht gewachsenen Tannenwald hinweg. Wenn man plötzlich, unerwartet, nach einer langen Wanderung über dicke Wurzelstämme und sprudelnde Bergbäche schwer atmend ein Plateau erreicht, in der kalten Höhenluft auf dreitausend Metern, und der Blick hinüber fliegt, über das Tal und auf den Gletscher, und dieser auf einmal majestätisch da liegt – ja, geradezu ein anderer geworden ist – und wenn einen ein Gefühl ergreift, das dem Schaudern der ursprünglichen Entdecker wohl näher ist als der Enttäuschung des modernen Touristen.

Die Kommunikationsmöglichkeiten der Facebook-Gesellschaft machen unsere Welt einfacher, leichter navigierbar. Sie eröffnen Chancen des Erlebens – vergleichbar der Bereicherung, die eine gewachsene Mobilität früheren Generationen beschert hat. Das ist, zumindest in meinem Leben, ein Fakt. Andererseits ist ebenso ein Fakt, dass etwas verloren geht, wenn man den Bus nimmt. Derjenige, dem der Aufstieg zum Gletscher erleichtert wird, gelangt paradoxerweise an einen anderen Ort als derjenige, der den langen, steinigen Weg nimmt und vielleicht durch Zufall zum Eis gelangt. Es ist ein anderer Ort, auch wenn es derselbe ist. Denn der Weg modifiziert das Ziel – in den Höhen der Rocky Mountains wie im virtuellen Raum des Internets.