Manchmal, unterwegs auf seinem Trecker, hält Bauer Jens Nielsen einen Moment inne. Das Nachmittagslicht streicht warm über die Weiden. Möwen segeln träge im Wind. Man hört nichts außer dem Zwitschern der Vögel, draußen auf den Wiesen am Deich, wo jeder Besucher mit einer Vorwarnzeit von fünf Minuten ankommt – so weit kann der Blick schweifen. »Da draußen ist die Welt noch in Ordnung,« erzählt Bauer Nielsen, locker an die Tür seiner Meierei gelehnt. Dort draußen hat er Zeit, den Alltag auf seinem Hof Revue passieren zu lassen – Alltag, der noch heute dem Leben seiner Vorfahren gleicht, der vier Generationen Nielsens, die auf Sylt von jeher in Milchwirtschaft gemacht haben. Ein Leben in Wind und Wetter, zum mächtigen Takt der Insel.

Andere meinten früher: Du musst doch was tun, die Welt verändern. Aber Jens Nielsen brauchte das nicht. Ganz bewusst ist er rausgegangen, auf die Warft, zum elterlichen Hof, mit seiner Frau Sabine. Der hatte er beim Kennenlernen zunächst verschwiegen, dass er Bauer war: »Erst einfangen, dann die Wahrheit sagen.« Jens Nielsen lacht. Dass die Frauen sich Aufregenderes als ein Leben mit Vieh und Milchkanne vorstellen können, hat er früh gelernt. Aber ohne seine Frau, das weiß Bauer Nielsen heute, würde sein Laden den Bach runtergehen. Das Rechnungswesen macht sie, die Milchtüten hat sie entworfen, und auch manch eine Tour zur Auslieferung der Milch auf Sylt übernimmt Sabine Nielsen.

Wie viel Arbeit so ein Milchbetrieb macht, das hatte er schlichtweg verkannt, mit Anfang Vierzig, als er auf die Idee kam, eine Milch zu produzieren, die so schmeckt wie früher – ganz anders als die der Großproduzenten, näher dran am Urprodukt. So wie die Milch, die Jens Nielsen als Inselkind getrunken hat. Der Bauer, gerüstet mit jener gesunden Selbsteinschätzung, die sich zwischen Sarkasmus und Realismus einpendelt, grinst hintergründig: »Was bin ich blauäugig gewesen.« Wie viel Herzblut er in den Betrieb stecken musste. Wie viel Lebenszeit. Urlaub gab es in drei Jahrzehnten nur dreimal. Auch jetzt, wo Secina, die älteste Tocher, im Ausland lebt, kann er nicht weg von den Kühen. Manchmal kommt es ihm schon vor, als stehe er allein auf weiter Flur. Aus der Genossenschaft ist er ausgeschlossen worden. Ein paar Kollegen haben ihm nahegelegt zu verkaufen. Und auch die Behörden machen es Jens Nielsen alles andere als leicht. Seit 1999, der Öffnung seiner Meierei, werfen sie ihm einen Knüppel nach dem anderen zwischen die Beine: neue Hygieneverordnungen, Besuche beim Veterinärsamt, die Kontrollen durch das Hauptzollamt. Natürlich, Sicherheit ist wichtig. Aber alles keimfrei? Bauer Nielsen runzelt die Stirn: »Da will ich ja gar nicht hin.« Was bliebe denn da vom Charakter seiner Sylter Vollmilch? Die ist eben ein kleiner Exot, ein Nischenprodukt. Und dementsprechend arbeitsintensiv.

Eine Arbeit, die er keinem seiner Kinder zumuten möchte. Jetzt, wo die Knochen müder werden, muss er über die Zukunft nachdenken, und es ist klar, dass keines der Kinder den Hof übernehmen wird: »Die wollen weg von der Insel, studieren.« Bauer Nielsen ist froh, dass er ihnen Studium und Wohnung in der Stadt finanzieren kann. Auch dafür steht er jeden Morgen wieder auf. »Die Kinder,« reflektiert er, »sind genauso die Früchte all der Arbeit.« Der Kontakt zu ihnen flackert immer wieder auf, im Alltag mit Jola, der Jüngsten, und auch, wenn die drei Großen Svarn, Yahwe und Secina zurück auf die Insel kommen, in die heile Welt auf dem elterlichen Hof. Der Alte war immer zuhause, werden sie sich denken, hat immer auf der Klitsche rumgehangen. Hat sie als Kinder auf dem Mähdrescher mitgenommen, für einen Mittagsschlaf im Stroh abgelegt und erst eingesammelt, wenn ihre Köpfe wieder aus dem Korn aufgetaucht waren. Auch das ist Teil seiner Milchproduktion, das Ganzheitliche, in dem Arbeit und Familie noch eine Einheit bilden. Die Zeit für die Kinder, die muss man in die tägliche Arbeit mit hinein interpretieren: »Das gehört alles mit in den großen Topf.« Dafür, sagt Jens Nielsen, haben sie sich gelohnt, die vielen Jahre mit dem Vieh.

Doch gerade in der Saure-Gurken-Zeit, im langen Winter, wenn Inseltage kurz und dunkel sind, wird es auch monoton im Leben des Milchbauern. »Aber dann,« erinnert sich Jens Nielsen, »steckst du die Nase in die Luft und sprichst mit den Sternen.« Nachts, wenn der Wind kühl über die Felder fegt und kein Luftsmogkegel den Blick auf das Universum verdeckt. Wenn ein Hans-guck-in-die-Luft sich noch einmal ganz klein fühlen kann. Solche Blicke auf das große Ganze haben auch seine Arbeit verändert. Früher, da hat er sich noch einen Kopf gemacht um Gewinnmargen und Sollerfüllung. Heute vertraut er mehr auf die natürlichen Abläufe. Kühe kalben eben nicht nach Terminkalender. Er sieht das inzwischen gelassen – auch wenn es das Geschäft bedroht, weil zur Hauptsaison weniger Kühe Milch geben. Irgendwo muss sich die Natur ja selbst regeln: »Die bringt alles wieder ins Gleichgewicht.« Manchmal aber sind auch Jens Nielsen die Gesetze der Natur zu unerbittlich. Dann kriegen die jungen Kühe, die von den älteren vertrieben werden, ihr Futter zuerst. Harmonie im Sozialgefüge ist dem Bauer wichtig, bei Tieren wie bei Menschen: »Die Generationen müssen zusammenpassen.« Im Wohnhaus der Nielsens ebenso wie im angrenzenden Stall.

Ein Grollen kommt aus der Ferne, wo ein Tintenfass über den Himmel gestürzt ist. Jens Nielsen schaut hinüber zur Weide. Die knapp dreißig Kühe werden schon unruhig sein, ihre Euter prall, der letzte Melkgang bereits zwölf Stunden her. Pfeifend wird Bauer Nielsen sie schon bald wieder in den Stall führen. Mit ihren langen Schmirgelpapierzungen werden sie die hingeworfenen Brötchen aus dem Stroh lecken. Und dann wird die Anbindevorrichtung zuschnappen, um ihre Köpfe, und der Bauer wird die Melkmaschine an ihren Zitzen anbringen können. Filou, der greise Hofhund, wird es nicht hören, so taub wie er geworden ist. Aber sein jüngerer Nachfolger wird die Ohren aufrichten und danach horchen: nach diesem Pfeifen des Bauern bei seinen Kühen – nach dieser Zufriedenheit hier draußen, am Deich, im abgelegenen Morsum, wo Milch noch ein Leben bedeutet.

(Dieser Artikel erschien erstmalig in Natürlich Sylt 02/2010. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.)