Mutter Klein ist wütend. Da hat sie einmal die ganze Familie beim Abendbrot beisammen, und was tun ihre Männer? Sie streiten. Der Sohnemann hat gerade in der Schule gelernt, dass es acht Planeten in unserem Sonnensystem gibt. Vater Klein aber will sich genau daran erinnern, dass Pluto der neunte Planet des Sonnensystems ist. Quatsch, sagt der Sohn. Die Mutter greift zu ihrem Laptop. Kurz bei Wikipedia gecheckt, ergibt sich: Pluto ist kein Planet. Zur Schulzeit des Vaters jedoch, so lernt die Familie, galt Pluto noch als neunter Planet des Sonnensystems. Eine Versammlung von Astronomen hatte vor ein paar Jahren einfach die Definition eines Planeten geändert. Nach der neuen Definition brauchte Pluto zu lange für seine Sonnenumkreisung. Na sieh mal an, sagt Vater Klein verblüfft. Du hast ja auch Recht, erwidert der Sohn versöhnlich. Pluto sei auch ein Planet, nur halt ein Zwergplanet. Der Familienfrieden ist gerettet, Mutter Klein zufrieden. Danke Internet, denkt sie. Ihr alter Brockhaus hätte die Antwort nicht gewusst. Was aber, wenn mehr an einer Frage hängt als der Haussegen bei Familie Klein?

Das Internet ist nicht nur Kontaktbörse und Schnittstelle für Medien aller Art, es ist vor allem das größte Lexikon der Welt, eine Art objektives Gedächtnis. Vor allem die Online-Enzyklopädie Wikipedia zieht wissbegierige Internet-Nutzer wie Familie Klein an. Seit gerade einmal einem Jahrzehnt gibt es Wikipedia und es existieren bereits mehr als 21 Millionen Artikel in rund 260 Sprachen. Dieses explosionsartige Wachstum wird nur noch übertroffen von der Popularität der Seite: Wikipedia rangiert auf Platz sieben der meistbesuchten Webseiten weltweit. Wohlgemerkt, ein Lexikon, kein Videoportal. Manch einem Enzyklopädisten der französischen Aufklärung hätte im Bewusstsein dieser Entwicklungen wohl ein seliges Lächeln auf den Lippen gelegen. Tatsächlich verbindet Wikipedia und die Gelehrtenrepublik des 18. Jahrhunderts ein verwandter Geist. Der Nährboden, auf dem das Projekt wächst, ist ein grundsätzlicher Idealismus, der Glaube an die menschliche Fähigkeit zur Objektivität.

Gegründet am Ende des letzten Jahrtausends, ist Wikipedia das Kind von Jimmy Wales, einem Fantasy-Rollenspieler mit BWL-Abschluss. Wales ist Anhänger der in Europa eher unbeachteten amerikanischen Schriftstellerin Ayn Rand, deren Objektivismus auf der aristotelischen Definition des Menschen als vernünftigem Lebewesen basiert. In der Wikipedia-Welt findet dieser Grundsatz seine Formulierung in Wales Grundsatz „Sag mir nicht, wie ich zu denken habe, erzähl mir nicht nur eine Seite der Geschichte; gib mir Fakten und ich werde selber darüber entscheiden.“ Gemäß dieser Politik der neutralen Perspektive werden Autoren der Lexikon-Artikel angewiesen, akzeptierte Sachverhalte ohne Vorurteile darzustellen und im Falle von Streitfragen beiden Streitparteien gleichviel Platz einzuräumen. Der Grund für Wikipedias rasanten Wachstum ist jedoch, dass die Macher der Seite zwar solche Regeln festlegen – nicht aber, wer für sie schreiben darf. Das Online-Lexikon bietet damit ein Gegenmodell zum klassischen Experten. Bei Wikipedia ist Expertise nicht mehr in einer Person verkörpert, sondern in der Gesamtzahl der Nutzer als Wissens-Kollektiv. Der Gedanke passt bei einem globalen Netzwerk wie dem Internet. Wikipedia nutzt klug die enorme Vernetzung des World Wide Web, um aufzubauen, was Wales als „Summe des menschlichen Wissens“ bezeichnet.

Im Rückblick scheint diese Entwicklung angesichts der Beteiligungsmöglichkeiten des Internets fast unausweichlich. Um die Jahrtausendwende jedoch, als Unternehmen wie Google und Wikipedia noch in den Kinderschuhen steckten, war nicht abzusehen, wie sich das Internet entwickeln würde. Anfangs noch überschaubar, wuchs das Netz schon bald rasant an. Zwei konkurrierende Modelle, wie man da für Orientierung sorgen könnte, standen sich damals gegenüber. Der Branchenprimus Yahoo setzte darauf, ein Heer an Experten dafür zu bezahlen, das Internet zu katalogisieren. Bei Google und Wikipedia dagegen glaubte man an die Eigendynamik großer Gruppen von Individuen, die, geleitet von ihrem gesunden Eigeninteresse, gemeinsam mehr zustande bringen könnten als allein. Dies war Ayn Rands Philosophie des Egoismus, übertragen auf die digitale Welt. Als Wales dann von den Wikis, einer Innovation des Hackers Ward Cunningham, Wind bekam, waren die Grundsteine für Wikipedia gelegt. Cunninghams Wiki-Prinzip beruht auf der demokratischen Teilhabe aller am Aufbau einer Seite. Nutzer können eine neue Seite erstellen und verändern – gleichzeitig und parallel. Aus dem Chaos vieler kleiner Änderungen, so der Gedanke, soll dann Ordnung entstehen, Wissen, Wahrheit. Für ein Lexikon bedeutet das: Die Überprüfung einer Information durch ausgewiesene Sachverständige wird ersetzt durch eine größere Anzahl Interessierter. Das ist der Zaubertrick, auf dem scheinbar das ganze World Wide Web basiert. Auch hinter Googles Algorithmen steckt eine ähnliche Idee: Suchergebnisse werden dort nach dem Prinzip ausgegeben, dass diejenige Seite als relevantestes Suchergebnis erscheint, welche die meisten Verlinkungen von ihrerseits relevanten Seiten vorweisen kann. Bei Google soll also ebenfalls Quantität Qualität garantieren. Etwas ist relevant, so die Denkweise, weil es am meisten verlinkt wurde. Nicht: Etwas wurde am meisten verlinkt, weil es relevant ist. Ungeachtet der Frage, ob hier Relevanz mit Beliebtheit verwechselt wird, lässt sich heute, ein Jahrzehnt nach diesen Weichenstellungen, konstatieren: Der Ansatz von Wikipedia und Google gewinnt den Tag; Yahoo ist quasi tot.

In einem Wikipedia-Artikel findet sich also eine Darstellung des Diskussionstandes zu einem Thema. Der anonyme Autor sagt implizit: Das wissen wir über eine Sache! Ein kritischer Geist mag da, nach erster Zustimmung, vielleicht nachfragen: Wer stellt denn die Informationen zusammen, und mit welchen Intentionen? Tatsächlich gibt es schon einige handfeste Hinweise auf Manipulationen in der relativ kurzen Geschichte der Enzyklopädie. Missbrauch nimmt dabei selten die Form tatsächlicher Falschinformation an. Oft zeigt er sich eher in dem, was in Artikeln über Unternehmen und deren Produkte nicht zu finden ist. Prominent geworden ist der Fall des Wahlmaschinenherstellers Diebold, den das US-Magazin Wired aufdeckte. Ein anonymer Autor hatte in dem Wikipedia-Artikel über Diebold ganze Absätze über Zweifel an der Verlässlichkeit der Maschinen gelöscht. Dummerweise konnte die Aktion auf einen Rechner zurückverfolgt werden, der in der Diebold-Hauptzentrale in Ohio stand.

Nichtsdestotrotz beschreibt Wales seine Erfahrung mit dem Vertrauen, das er in die Wiki-Gemeinschaft setzt, als gut. Die Qualität einer Mehrzahl der Artikel gibt ihm Recht. Wie das Wissenschaftsmagazin Nature herausfand, ist die Online-Enzyklopädie in Sachen Genauigkeit durchaus vergleichbar mit einem allseits anerkannten Lexikon wie der Encyclopedia Britannica. Das liegt aber auch daran, dass sich gerade die Wissenschaftsseiten bei Wikipedia nach den Standards der Buchbranche richten. Artikel über wissenschaftliche Sachfragen werden von anerkannten Spezialisten verfasst oder schlicht aus Fachbüchern abgeschrieben. Nicht die egalitären Prinzipien der Wiki-Welt sind es also, die in den meisten Fällen die Qualität eines Eintrags garantieren, sondern die Kriterien der traditionellen Wissenskultur. Bei genauem Hinsehen entpuppt sich das neue Modell als weniger revolutionär als es die Selbstbeschreibungen der Wiki-Pioniere vermuten lassen. Es gibt nichts Neues unter der Sonne, auch unter der kalifornischen nicht.

Bei aller Begeisterung für die Möglichkeit, in einem offenen Prozess vorhandene Informationen zu einem Thema zu sammeln, um an so etwas wie Wahrheit heranzukommen – die Frage, was Sachverstand ausmache, bleibt zentral. Schon Platon wusste: Die Vielen können sich irren. Der griechische Philosoph sah deutlich die Gefahren, die davon ausgingen, Wahrheit als Konsens der möglichst größten Zahl zu verstehen. Die Sophisten seiner Zeit standen auf den Marktplätzen und verstanden es, mit rhetorischen Tricks die Massen ihren Machtinteressen gemäß zu steuern. Auf dem virtuellen Marktplatz unserer Zeit gelten die gleichen Regeln. Es ist kein Zufall, dass der Wiki-Gedanke einem unter Hackern als „Basar-Modell“ bezeichneten Programmierprinzip entstammt.

Wenn ein Wikipedia-Eintrag die Familienharmonie retten kann, ist das natürlich wunderbar. Ihren neuen Staubsauger aber wird wohl auch Frau Klein eher auf Kaufempfehlung der Stiftung Warentest kaufen, oder nach persönlichem Antesten. Ebenso liegt für auch andere Nutzer die Aufgabe darin, die nötige Kompetenz im Umgang mit open source-Lexika zu entwickeln. Gerade Journalisten sollten die Online-Enzyklopädie nur im Bewusstsein des Entstehungsprozesses ihrer Artikel nutzen. Wikipedia, so die nicht allzu neue Erkenntnis, kann gewissenhafte Recherche nicht ersetzen.

(Eine Version dieses Artikels ist erschienen in textintern 12/2010. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.)