Der amerikanische Dichter Walt Whitman war ein begeisterungsfähiger Mensch. Mit einem für das 19. Jahrhundert typischen Fortschrittsoptimismus feierte er nicht nur die transkontinentale Eisenbahn, sondern bedachte auch den Telegraphen, der die Menschen der alten und neuen Welt minutenschnell näher zueinander brachte, mit hymnischen Worten. Ein modernes Wunder sei diese Technologie, schrieb Whitman in Passage to India, bei der die See, so die typisch Whitmanschen Animismen, mit „eloquent gentle wires“ ausgelegt werde.

Und doch, wichtiger als der Sanftmut und die Wortgewandtheit der neuen Wunderkabel, wichtiger noch als sein eigener Enthusiasmus im Angesicht der technischen Möglichkeiten des Industriezeitalters, war Whitman die Anbindung an etwas viel Älteres: „Yet first to sound, and ever sound, the cry with thee O Soul, The Past! the Past! the Past! the Past!“ Auch durch die Kabel am Meeresgrund sollte der Ruf der menschlichen Seele erklingen, in einer ewig währenden Frage an die Vergangenheit. Wir, die wir uns heute für wieder andere Wunderkabel begeistern, sollten in diesen Whitmanschen Ruf der Seele einstimmen. Was aber ist es, was die Vergangenheit uns erzählen kann? Was können wir von ihr lernen, wenn es darum geht, das Internet, die mächtigste Innovation unserer Zeit, im Dienst der menschlichen Seele zu nutzen?

Wenn schon Vergangenheit, dann richtig. Gehen wir also weit zurück, ins vierte Jahrhundert vor Christus. Da sitzt in Athen ein Mann namens Platon in seiner Akademie, vor einer Gruppe auserwählter Schüler. Natürlich haben sie sämtliche Schriften ihres Lehrers studiert; die Akademie war ein esoterischer Zirkel, da kam beileibe nicht jeder hinein. So wissen all diese Schüler auf der halbkreisförmigen Bank vor Platon, was nun kommen wird. Eine Generalabrechnung mit der damals aufkommenden, das geistige Leben revolutionierenden Schriftkultur. Weil der Mensch inzwischen aufschreiben könne, was vorher noch durch beständige Wiederholung auswendig gelernt werden musste. Und daher, so führt der Philosoph aus, verkümmere sein Gedächtnis.

Die Schüler lauschen andächtig. Da erhebt einer von ihnen, ein neuer, der sich dem Meister gegenüber beweisen möchte, keck das Wort. Wo denn der Unterschied sei, will der Schüler wissen, ob man die Tafel des eigenen Geistes beschreibe, oder eine tatsächliche? Sei nicht letztere, in der Welt vorfindliche, sogar präziser, unbeugsamer? Warum sie also nicht begrüßen, diese neue Technik, die es erlaube, den Geist auf Angenehmeres zu lenken als auf die immer gleichen Simonides-Verse? Ein paar andere mögen den Dichter Simonides auch nicht sonderlich und beginnen zu lachen, doch verstummen schnell. Dies ist die Akademie, rufen sie sich zur Räson – ein Ort der ernsten Reflexion, kein Amphitheater. Doch öffentliche Approbation im Rücken, wähnt sich der Schüler schon stärker im Streit der Argumente und wirft noch hinterher, auch Platon selbst habe seine Gedanken ja schließlich dem Papyrus anvertraut. Werde damit seine Position nicht widersprüchlich?

Der große Dialektiker erhebt sich und schmunzelt. Tatsächlich, beginnt Platon, schätze auch der philosophos die Möglichkeit, in Schrift das Erkannte festzuhalten. Nichts, sinniert er, bereite ihm mehr Freude als das Spiel mit den Worten, des Abends, allein mit Wein und Rohrfeder, wenn die Musen sich für das morgendliche Opfer erkenntlich zeigen. Einen Moment blickt Platon in die Ferne und der Schüler lächelt, glaubt sich siegreich. Doch dann fasst sich der Philosoph und geht einen Schritt auf seine Zuhörer zu: Ob er, der Schüler, aber merke, was er gerade getan habe? Seine eigene Rückfrage an den philosophos: Könne er eine solche auch an die Schrift richten? Könne die Schrift nicht immer nur das Gleiche sagen, ob der Schüler nun verstanden habe oder nicht?

Und dann redet Platon nach einer Pause, während der man das Rascheln von Sandalen im Sand hören kann, wieder zum ganzen Auditorium, sein Ton nicht mehr die barsche Zurückweisung eines Einwandes. Wer liest, sagt er mit dem Duktus des Wissenden, der tut dem logos des philosophos Gewalt an. Wer liest, muss eine fremde Stimme in seine eigene Stimme hinüberziehen. Stößt er dabei auf etwas, was er nicht versteht, so kann er nicht fragen, wie es gemeint war. Denn der Schreiber ist nicht anwesend. Und die Schrift wird ihm nicht antworten. So spricht er in seiner Seele mit einer Doppelstimme – nicht ganz die fremde des Schreibers, aber auch nicht ganz seine eigene. Die Schüler nicken, als der Philosoph ergänzt, nur im mündlichen Gespräch, wie hier in der Akademie, spreche jeder mit seiner eigenen Stimme. Nur im Gespräch sei jeder eins mit sich selbst. Die Schrift dagegen, fasst Platon zusammen, hebt diese Einheit auf und führt zu Missverständnissen, die weder durch Interventionen des Schreibenden, noch durch Nachfragen des Lesenden geklärt werden können. Auch der Neuling unter den Schülern nickt nun bedächtig, und bleibt noch stumm, als der Zirkel der Auserwählten gedankenversunken einer nach dem anderen die Exedra, den Vorlesungssaal, verlässt.

So wie der mutige Schüler können auch wir von unserem Besuch in der platonischen Akademie die Erkenntnis mitnehmen, dass die Schrift entfremdet, dass sie die ursprüngliche Einheit der Mündlichkeit aufhebt – die direkte Konfrontation von Proponent und Opponent. Es wird fast zweieinhalbtausend Jahre dauern, bis ein anderer mutiger junger Mann namens Marshall McLuhan eine Rückkehr dieser ursprünglichen Einheit erkennen will. Wohl ohne es zu wissen, wird der kanadische Theoretiker das dialektische Denkmodell der Hegelschen Philosophie auf die Entwicklung der Medien übertragen und im Fernsehen eine Aufhebung der Entfremdungen der Schriftkultur erblicken. Und, Platon wäre selig gewesen, im Gespräch wird McLuhan die kryptischen Gedanken seines Pop-Literatur-Klassikers Understanding Media verwirrten Lesern erläutern müssen. So wie an einem verregneten Nachmittag Mitte der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts, in einem Hotel-Café in Toronto.

Ob McLuhan das tatsächlich behaupten wolle, will der Interviewer eines Kultur-Magazins wissen: Dass Inhalte im Grunde irrelevant, die diese Botschaften transportierenden Medien aber dagegen von größtem Einfluss auf die geistige Entwicklung der Gesellschaft seien? Der Befragte nickt cool. Würde das aber nicht bedeuten, ereifert sich der Journalist, dass Kriegsreportagen die gleichen Auswirkungen auf eine junge Psyche hätten wie Kinderprogramme? Ob er das ernsthaft meine? McLuhan zuckt mit den Schultern und sagt schlicht: Ja.

Schauen Sie, beginnt er seinem aufgebrachten Gegenüber zu erklären, ich unterscheide zwischen heißen und kalten Medien. Ein heißes Medium verlangt vom Konsumenten weniger Beteiligung als ein kaltes. Der Journalist, der als Student Platon gelesen hat, denkt einen Moment nach und fragt: Also ist ein Buch heißer als ein Dialog? Genau, stimmt McLuhan zu, und das Fernsehen kälter als das Buch. Etwas eingenommen von dieser neuen Terminologie nickt der Journalist zunächst, stutzt dann jedoch, und gibt zu bedenken, dass das Fernsehen doch viel passiver mache. Dass doch ein Buch viel mehr Fantasie erfordere, um verstanden zu werden; schließlich müssten da doch Worte in geistige Bilder umgewandelt werden – beim Fernsehen müsse man ja nur hinschauen. Der Medientheoretiker kratzt sich am Kopf; er hat das schon so oft erklärt, irritierte Zuhörer in die Untiefen seiner Gedanken hinabgeführt.

Aber ignorieren wir McLuhans Antwort, sie wird auch uns nicht erhellen. Verlassen wir das Café, das Wichtigste haben wir gehört. Und auch wenn man McLuhans griffige Zuspitzungen nicht mitmachen möchte, so hat er sicher darin recht, dass Medien keine neutralen Hüllen sind – Vasen, in denen Inhalte transportiert werden; selber nur schmucke Vehikel, ohne Einfluss auf Sender und Adressaten. Nein, Medien verändern uns, prägen unsere Sinne. Nichts anderes als diese Einsicht liegt ja schon Platons Schriftkritik zu Grunde. Aber auch McLuhans engagiertem Gesprächspartner ist zuzustimmen, wenn er die These kritisiert, das Fernsehen erfordere gegenüber dem Buch eine erhöhte Interaktionsbereitschaft, sei daher gar so etwas wie die Wiederherstellung der Einheit des mündlichen Gesprächs auf höherer Ebene. Dem Mann ist auf die Schulter zu klopfen und beizupflichten: Fernsehen und Film, primär optische Medien, lassen die Vorstellungskraft des Menschen verkümmern, da sie all das einfach zeigen, was sich der Lesende noch vors geistige Auge rufen musste.

McLuhan hat die Geburt des Internets als populäres Massenmedium nicht mehr erlebt, er starb Anfang der achtziger Jahre. Aber sicherlich hätte er – als Methusalem, der er nicht geworden ist – im Netz ein Konglomerat aller vorherigen Medien erblickt. Vielleicht wäre ihm aufgegangen, dass erst das Internet, nicht schon das Fernsehen, die Rückkehr zu einer ursprünglichen Direktheit möglich macht – und das nicht unter Verzicht auf errungenen Fortschritt, sondern unter Einbindung der Dauerhaftigkeit des Schriftlichen und der visuellen Kraft des Fernsehens. Das Internet ist objektives Gedächtnis und Bildmaschine, aber es ist eben auch eine digitale Agora. Als solche vernetzt es Menschen, die sich sonst nie im Leben zu Gesicht bekämen. Wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe, liegt in dieser Unmittelbarkeit die Chance, die weitreichenden Forschungsprojekte unserer Zeit über globale Netzwerke zu diskutieren und so zu bestmöglichen, alle relevanten Einwände integrierenden Thesen zu gelangen, nach denen sich dann unser Handeln als Menschheit richten kann. Unter Rückbesinnung auf den unternommenen Ausflug in die Geschichte der Medien ließe sich dazu ergänzen: Es gilt dabei, die Einheit des mündlichen Gesprächs wieder herzustellen.

Das Internet nur für Entertainment zu nutzen, wäre schade. In der Idee des Netzes als weltumspannendem Marktplatz dagegen liegt die Möglichkeit, Proponenten und Opponenten verschiedener Erdteile einander direkt zuzuführen. Die Technologie dafür liegt ja schon bereit. Wäre es nicht möglich, Algorithmen wie den der virtuellen Kontaktmaschine Chatroulette, bei der die Kontaktfreudigen unser oft einsamen Digitalwelt per Zufallsprinzip aufeinander treffen, so umzuprogrammieren, dass Teilnehmer an politischen Diskussionen einander zugewiesen werden? Dass jemand, der einen Einwand zu einer aufgestellten These hat, dem Proponenten per Webcam begegnen könnte, weil das Programm den thematischen Bezug erkannt hat? Entwicklungen im Bereich der latent semantischen Suchmaschinenoptimierung lassen auf derart „intelligente“ Algorithmen hoffen. Und ließe sich so nicht auch das Versprechen globaler Meinungsfindung mit der platonischen Forderung verbinden, ein Proponent müsse seinem logos helfen, seinen Zuhörern direkt Rede und Antwort stehen können?

Natürlich lauern auch im Internet die Gefahren vergangener Technikrevolutionen – der Verlust an subjektivem Gedächtnis, das Verkümmern bildlicher Fantasie. Von Platon aber lässt sich lernen, dass man neue Medien nicht bewältigt, indem man sie ignoriert. Um an den mutigen Einwand des Schülers in der Akademie zu erinnern: Auch Platon hat geschrieben. So gilt es, die neuen Medien nicht zu verteufeln, sondern sie zu feiern wie Whitman seine „gentle eloquent wires.“ Erinnern wir uns also an die Geschichte der Medienrevolutionen und schicken wir durch die global verlaufenden Kabel unserer Zeit, über Satelliten und durch Funknetze den Whitmanschen Ruf „The Past! the Past! the Past! the Past!“ Soll es wahrhaftig im Dienst der menschlichen Seele stehen, so muss auch das Netz letztlich zu einer ursprünglichen Direktheit zurück führen, zum Kontakt von Mensch zu Mensch.